Thalmässing
"Judenknecht, komm raus"

Prozessakten belegen antisemitische Übergriffe in Thalmässing in der Reichspogromnacht

08.11.2013 | Stand 02.12.2020, 23:27 Uhr

Die aufgehende Sonne als Hakenkreuz über Thalmässing: So haben die Nationalsozialisten im Dritten Reich die Marktgemeinde gesehen, die hier mit Blick von der Leiten auf den Ortskern fotografiert wurde. - Foto: privat

Thalmässing (HK) In der Reichspogromnacht am 9. November 1938, die sich am heutigen Samstag zum 75. Mal jährt, ist es auch in Thalmässing zu gewalttätigen Übergriffen gekommen. Und nicht nur das: Schon im Sommer 1933 gab es Angriffe auf Juden. Das belegen Gerichtsdokumente aus dem Nürnberger Staatsarchiv.

Laut diesen Protokollen sind die damaligen Täter 1950 teilweise zu Haftstrafen verurteilt worden. Einer von ihnen war der ehemalige Hauptlehrer Fritz S. aus Thalmässing. Den SA-Obersturmbannführer und späteren Ortsgruppenleiter der NSDAP hatte die Nürnberger Staatsanwaltschaft der Rädelsführerschaft bei Übergriffen auf jüdische Bürger bezichtigt. Die Rädelsführerschaft konnte ihm rein juristisch nicht nachgewiesen werden, sehr wohl aber eine Mittäterschaft. Fritz S. hatte fast alle Vorwürfe abgestritten.

In einer Nacht im Sommer 1933 hatte sich in Thalmässing eine randalierende Menge der SA auf den Weg gemacht, um gegen einen im Schulhaus wohnenden jüdischen Lehrer vorzugehen. „Uniformierte SA Leute lärmten vor dem Haus und zertrümmerten mit Steinwürfen die Fensterscheiben“, heißt es später in den Prozessakten von 1950. Aus dem Innern der Wohnung sei Jammern und Weinen zu hören gewesen. Fritz S. sei zur verschlossenen Tür geeilt und habe gerufen: „Aufmachen, Polizei“, obwohl er gar kein Polizist gewesen sei. Dann wurde der jüdische Lehrer in so genannte Schutzhaft genommen. Dessen Frau „wurde infolge dieses Vorfalles irrsinnig und musste in eine Anstalt für Geisteskranke verbracht werden“, heißt es im Protokoll.

Das Landgericht Nürnberg-Fürth verurteilte Fritz S. 1950 wegen „zweier sachlich zusammentreffender Vergehen des Landfriedensbruchs“ zu acht Monaten Gefängnis. Drei weitere Angeklagte blieben straffrei.

„Es ist beschämend, dass sie mit derart läppischen Strafen davongekommen sind“, kommentiert der Thalmässinger Willi Weglehner, der sich intensiv mit der jüdischen Geschichte seiner Heimatgemeinde auseinandergesetzt hat. Der jüdische Lehrer, erzählt Weglehner, sei damals „schwerst misshandelt“ worden. Später seien der Lehrer und dessen Frau deportiert und ermordet worden.

Er selber habe zu dem Thema publiziert und sei immer wieder angesprochen worden, die alten Geschichten doch ruhen zu lassen. „Aber das muss auf jeden Fall im Gedächtnis bleiben“, fordert Weglehner.

„In dieser Stadt herrschte seit langer Zeit eine gegen Personen jüdischer Abstammung feindliche Stimmung, die seit 1933 durch aufwiegelnde Reden höherer Vertreter der NSDAP mehr und mehr geschürt wurde“, steht in der Schrift des Landgerichts. „So blieb es nicht aus, dass in den Jahren 1933 bis 1938 Ausschreitungen gegen jüdische Familien unternommen wurden.“

Die Synagoge hat am 9. November 1938 in Thalmässing nicht gebrannt, anders als in vielen deutschen Städten. Aber auch nur, weil sie bereits 1936 als Schranne, als Getreidespeicher, benutzt worden war.

In der Reichspogromnacht sollte auch ein Judensympathisant in Eysölden in Schutzhaft genommen werden, weil der Innungsmeister bei den Juden einkaufte. Dessen Ehefrau war mit den Kindern alleine zu Hause. „Vor dem Haus standen Leute, die schrien: ,Judenknecht, komm raus, deine Zeit ist aus’“, sagte die Frau 1950 als Zeugin vor dem Landgericht. Dann hätten die Randalierer die Fenster des Wohnzimmers eingeschlagen. Erst als die Männer merkten, dass der Gesuchte nicht zu Hause war, rückten sie wieder ab.

Vieles aus der jüdischen Geschichte Thalmässings weiß Willi Weglehner aus erster Hand. Er hat Kontakte geknüpft mit Emma Neuburger, die 1938 „gerade noch rechtzeitig“ in die USA auswanderte. Damals war Emma ein achtjähriges Mädchen. Später zog sie mit ihrer Familie nach Israel. Emma war Schülerin von Fritz S., „sie bezeichnete ihn als ,rat’, als Ratte“, erzählt Weglehner. „Damals waren nur noch zwei jüdische Mädchen in Thalmässing und der Lehrer hat sie über die Maßen schikaniert.“ Auch ihre Nachfahren waren schon auf Spurensuche in Thalmässing. Weglehner freut sich über die freundschaftlichen Besuche. Denn vor 1933 habe es schließlich auch „keine Ressentiments“ gegen Juden gegeben.

Auf Emma Neuburgers Initiative ist 2000 ein Gedenkstein im Thalmässinger Ortskern errichtet worden, an dem am Samstag zum 75. Jahrestag der Reichspogromnacht ab 18.30 Uhr eine Gedenkfeier abgehalten wird. „Wie wichtig die Erinnerung ist, zeigt die Gegenwart“, betont Weglehner. „Und man fragt sich, wie es möglich war, dass eine Mörderbande, die sich NSU nennt, über ein Jahrzehnt unentdeckt so viel Unheil anrichten konnte.“