Ingolstadt
Überfall mit Lerneffekt

Ausbildungsprojekt: Angehende Heilerziehungspfleger testen Passanten in der Fußgängerzone auf ihre Zivilcourage

16.07.2019 | Stand 23.09.2023, 7:49 Uhr
Angriff in der Fußgängerzone: Die Szene, in der Denizhan (rechts) seiner Klassenkameradin Maxi die Tasche entreißen will, ist glücklicherweise nur gespielt und soll die Zivilcourage der Ingolstädter auf die Probe stellen. Auf dem Rathausplatz bauten die Schüler derweil einen Parcours auf. Hier konnten Passanten ausprobieren, was es heißt, sich mit dem Rollstuhl fortzubewegen. −Foto: Brandl

Ingolstadt (DK) Teilweise tumultartige Szenen spielen sich am Dienstagvormittag in der Ingolstädter Innenstadt ab.

Ein junger Mann versucht, einer Passantin in der Fußgängerzone die Handtasche zu entreißen. In einem anderen Fall gerät ein junges Pärchen in Streit, wobei es in der Mauthstraße zu heftigen Handgreiflichkeiten zwischen ihnen kommt.

Keine Angst: Die Übergriffe, die am Vormittag die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich ziehen, sind nur inszeniert. Anlass ist das Projekt "Ingolstadt inklusiv" einer Klasse mit angehenden Heilerziehungspflegern der Berufsfachschule Stiftung St. Johannes in Neuburg an der Donau. Die jungen Leute wollen mit der Aktion aufzeigen, wie es um die Zivilcourage der Ingolstädter bestellt ist. Zugleich testen sie die Innenstadt auf Barrierefreiheit und bieten Leuten an, auf dem Rathausplatz Selbsterfahrung im Rollstuhlfahren zu machen.

"Was soll das? ", ruft ein Mann aufgeregt durch die Ludwigstraße. Er gehört zu den ersten Passanten, die aufmerksam werden, als Denizhan plötzlich von hinten auf seine Klassenkameradin zustürzt. Mit festem Griff packt er ihre Handtasche, will sie ihr entreißen. Maxi bleibt cool, lässt nicht locker und wehrt sich nach Kräften gegen den Überfall, der scheinbar zu eskalieren droht. Die Szene dauert nur wenige Sekunden, dann lösen die Darsteller das Geschehen rasch auf. Sie wollen die Nerven der Helfer, für die die Situation in diesem Moment bitterer Ernst ist, nicht unnötig strapazieren. Zu den Menschen mit offenbar reichlich Zivilcourage gehören Martin und Bettina aus Ingolstadt. Die beiden gehen, ohne lange zu überlegen, dazwischen, als sie Zeuge des Vorfalls werden. "Wir haben so eine Situation mit unserer Tochter schon erlebt", sagt Bettina. Gedanken daran, dass sie sich womöglich selbst in Gefahr bringen könnte, habe sie aber nicht gehabt. "Dafür war das zu überraschend", sagt sie. Nicht alle Passanten agieren so beherzt. Beim inszenierten Taschenklau auf einer Bank bekommt der daneben sitzende Proband den Vorfall gar nicht erst mit. Und das, obwohl Denizhan unübersehbar damit beginnt, die Tasche auszuräumen und einige Sachen fallen zu lassen. "Hätte ich etwas bemerkt, dann hätte ich etwas gesagt", entschuldigt sich der Mann anschließend. Er sei wohl zu sehr mit seinen Obst-Quetschies beschäftigt gewesen.

Anders Helena Gluglu. Die Ingolstädterin mittleren Alters ist die erste, die hilft. "Für mich ist das selbstverständlich, auch wenn ich aufgeregt war", sagt Gluglu. Was sie getan hätte, wenn der Dieb aggressiv geworden wäre? "Dann hätte ich laut um Hilfe geschrien", antwortet sie prompt. "Ich wäre ihm auch hinterhergelaufen, ich bin ja sportlich", so Gluglu. Sie halte Aufklärung für wichtig, um die Leute zu sensibilisieren. Andere sehen das nicht ganz so gelassen. "Das macht man nicht aus Spaß", tadelt ein älterer Mann die Gruppe und beschimpft sie einige Minuten lang heftig. Eine Gruppe junger Männer beobachtet das "streitende Pärchen" in der Mauthstraße erst neugierig, dann amüsiert. Sie bemerken irgendwann, dass die Szene, in der der Mann das Mädchen gegen ihren Willen neben sich herzieht, gestellt ist. In Wirklichkeit wäre es da vielleicht schon zu spät gewesen. "Die Hilfsbereitschaft in Ingolstadt ist größer, als von uns erwartet. Wir dachten, die Leute schauen mehr weg. Wir sind positiv überrascht", zieht Klassenleiterin Irina Grimm ein Fazit. Besonders viele hätten der vermeintlich blinden Frau helfen wollen. Grimm führt dies darauf zurück, dass behinderte Menschen als besonders hilfebedürftig angesehen werden. Das Projekt, das von einem Kontaktbeamten der Polizeiinspektion Ingolstadt begleitet wurde, sei eine Premiere gewesen. Auf die Idee seien die Schüler selbst gekommen. Für sie sei es aus der Perspektive von Betroffenen interessant gewesen, an die eigenen Grenzen zu gehen, hieß es. Die Schüler wollten so erfahren, ob die Bereitschaft zur Hilfe, die sie anderen durch den Beruf entgegenbringen, auch in der Gesellschaft vorhanden sei. Abstriche musste die Gruppe aus ihrer Sicht bei der Barrierefreiheit in Ingolstadt machen. Demnach hätten Gespräche mit Rollstuhlfahrern ergeben, dass diese sich über zu wenig Rücksichtnahme im ÖPNV und zu viele Barrieren wie hohe Bordsteine beklagten. Die Gruppe machte die Menschen auf die Internetplattform wheelmap. org aufmerksam, die rollstuhlgerechte Orte auf Stadtplänen anzeigt.

Michael Brandl