''Klettern ist nicht gefährlicher als Fußball oder Tennis spielen''

20.01.2012 | Stand 03.12.2020, 1:55 Uhr
Daniel Gebel beim Vorstieg. −Foto: Alexandra Schweiger

Ingolstadt (dk) Felsen, Berge, bunte Griffe, Seile und Magnesium – das ist die Welt von Daniel Gebel. Der 32-jährige Ingolstädter war am Bau der Ringseer Kletterhalle beteiligt und ist selbst erfolgreicher Kletterer. Er ist bei zahlreichen Erstbesteigungen auf der ganzen Welt unterwegs gewesen und war auch 2006 einen Turnus lang Mitglied des Expeditionskaders des Deutschen Alpenvereins. Donaukurier.de traf sich mit ihm zum Interview nahe seiner neuen Heimat in einer Kletterhalle in Scheidegg in der Nähe des Bodensees.

Seit wann klettern Sie?
 
Daniel Gebel: 21 Jahre müssten es jetzt sein. Ich habe so mit zehn, elf, zwölf Jahren angefangen.  Wie kamen Sie denn dazu?
 
Gebel: Ich habe einen Haufen Sportarten ausprobiert, bin dann irgendwann beim Skateboardfahren gelandet und habe einmal ein Was-ist-Was-Buch über "Höhlen" in der Stadtbücherei in die Hand bekommen. Da stand drin, wie sich Leute in Höhlen abseilen, was für Gurte und Abseilgeräte die verwenden. Dann habe ich angefangen, mir das Material selbst zu bauen. Ich habe Rucksäcke und Schultaschen auseinandergeschnitten und die Gurtbänder zu Klettergurten vernäht und bin damit dann in Bäumen rumgeklettert. Da ist dann mal einer gerissen, ich bin gestürzt und habe mir zwei Rippen gebrochen. Daraufhin haben meine Klassenkameraden zusammengelegt und mir zum Geburtstag einen richtigen Klettergurt geschenkt. Ich habe mir noch ein Seil und eine Reepschnur (Anm. d. Red.: dünnes Seil von vier bis acht Millimetern Durchmesser; wird überwiegend für Sicherungen verwendet) gekauft. Ich bin immer mit dem Fahrrad nach Konstein ins Altmühltal gefahren und habe angefangen zu klettern. Ich hatte zehn Meter Seil, zehn Meter Reepschnur und wieder ein Buch aus der Stadtbücherei übers Klettern. Ich bin immer zehn Meter hoch, habe versucht, an einen Haken hinzukommen und habe mich dann von dem Haken aus abgeseilt. Da hat mich ein erfahrener Kletterer beobachtet. Er hat mich eines Abends nach Hause gebracht und meinen Eltern gesagt, es wäre besser, wenn ich mal einen Kletterkurs machen würde. Dann bin ich zur Alpenverein-Sektion Neuburg. So bin ich dann immer mehr reingerutscht. 

  Was ist der Reiz am Klettern?
 
Gebel: Man hört auf diese Frage immer sehr viel Pathetisches. Bei mir ist es tatsächlich so ein bisschen die Leistungsgrenze. Dass man mit der spielen kann. Und zwar auf verschiedene Spielformen. Es wird nicht langweilig. Wenn ich mal das Gefühl habe, dass ich beim Klettern gerade unmotiviert oder in einer schlechten Phase bin oder es bietet sich gerade keine gute Gelegenheit, dann kann ich Bergsteigen gehen oder mal Skibergsteigen oder Eisklettern oder ich gehe mal Bouldern (Anm. d. Red: Klettern ohne Seil in Absprunghöhe). Wie gesagt, für mich ist es das Spielen mit der Leistungsgrenze, das Draußensein, mit Freunden in der Seilschaft unterwegs sein, das Abenteuer Kletterreisen. Wir waren schon auf allen fünf Kontinenten zu Erstbesteigungen unterwegs und das ist dieses Abenteuer, das damit verbunden ist. Es sind ein Haufen Komponenten, die da reinspielen.  Sie waren im DAV-Expeditionskader. Was ist das genau?
 
Gebel: Das ist ein Model, das es in Frankreich schon seit einigen Jahren gibt. Der Klettersport entwickelt sich momentan in den Alpenvereinen extrem rasant, was den Bereich Sport- und Hallenklettern, also Klettern an künstlichen Kletteranlagen, betrifft. Es schießen Kletterhallen wie Pilze aus dem Boden. Der Nachwuchs ist da, die Jugend wird gefördert. Es gibt Wettkämpfe. Von der Bundes-, Landesliga, nationale Wettkämpfe bis zu Regionalcups wird alles angeboten. Es gibt eine gute Möglichkeit, sich da zu entwickeln. Nur stellen die Alpenvereine fest, dass der klassische Bergsport, der Alpinismus, der die Basis des Kletterns eigentlich war, ausstirbt bzw. nicht diesen Nachwuchsboom erfährt. Der Gedanke ist der, sich Nachwuchs im Bereich Bergsport zu ziehen. Eben den jungen Kletterern zu zeigen, dass es nicht nur das Klettern in der Halle, das Sportklettern oder Bouldern gibt, sondern auch eine Dimension darüber hinaus. Im deutschen Alpenverein funktioniert das Model so, dass immer eine Gruppe gesichtet wird. Man kann sich mit seinem Tourenbericht bewerben. Man wird zu einem Sichtungscamp eingeladen und dort wird ausgewählt. Daraus entsteht eine Gruppe, die drei Jahre lang trainiert wird und zusammen eine Abschlussexpedition macht. Das gibt es inzwischen seit zwölf oder 15 Jahren. Die Erfahrung zeigt, dass das Leistungsniveau von Turnus zu Turnus deutlich höher geworden ist. Es sind jedes Jahr mehr Bewerbungen eingegangen. Man merkt, dieses System scheint zu funktionieren.  Sie waren bei einigen Erstbesteigungen dabei. Wie muss man sich das vorstellen, wie läuft das ab?
 
Gebel: Erstbesteigungen gibt es in den verschiedenen Dimensionen. Man kann den Boulder erst besteigen. Das bedeutet, dass ich erst einmal an einem Gesteinsblock, der nicht höher als zwei Meter ist, versuche, drei bis vier Bewegungsabfolgen aneinanderzureihen. Eine Erstbesteigung beim Sportklettern kann bedeuten, man geht an eine Wand, seilt sich von oben ab, setzt Haken, trainiert an die Route hin und klettert die dann als Erster. Es gibt auch hochalpine Erstbesteigungen. 6000er oder 8000er. Für die 8000er gibt es keine Erstbesteigungen mehr, aber man kann neue Linien gehen. Man kann Berge erstbesteigen und es gibt Zwischenformen. Big Walls, das heißt, das sind Wände zwischen 300 und 1200 Metern, wo man dann im Aufstieg von unten versucht, eine kletterbare Route durchzulegen. Bis auf die 6000er und 8000er habe ich alle Varianten der Erstbesteigungen durchgemacht.  Was empfindet man da oben auf so einem 1200-Meter-Gipfel?
  
Gebel: Ich mache mehr 800-Meter-Wände. 1200 Meter kommen seltener vor. Nach einer Sportkletterroute ist es definitiv eine wahnsinnige Begeisterung. Zum Teil trainiert man da relativ lange dran hin, versucht wirklich über Wochen und Monate diese Route zu klettern. Trotzdem ist man auf so einer Wand eigentlich meistens froh, dass es vorbei ist. Im ersten Moment denkt man sich: "Gott sei Dank habe ich das jetzt hinter mir und muss dann nicht noch mal hoch und noch mal das Material da reinschleifen und noch mal da hochklettern." Das ist ja meistens doch eine langwierige Aktion und auch sehr anstrengend. Aber in jedem Fall ist es natürlich auch irgendwo eine wahnsinnige Befriedigung.  Kann man in der Halle für den Felsen trainieren?
 
Gebel: Ja, definitiv. Jetzt zwar nicht für das hochalpine oder alpine Bergsteigen. Da ist es die falsche Trainingsform. Es wird mit Sicherheit auch was helfen, aber es wäre nicht das Mittel der Wahl. Aber für alles andere, alles was mit Klettern draußen zu tun hat, ist die Halle auf alle Fälle ein super Trainingsmedium. Der Faktor Kraft ist immer essentiell beim Klettern. Und da ist das, was ich in der Halle sehr gut trainieren kann.  Haben Sie Angst vor einem Sturz oder sogar Todesangst?
 
Gebel: Nein, überhaupt nicht. Das soll sich jetzt nicht heroisch anhören, sondern die Angst ist was, was man mit der Zeit mehr und mehr ausblendet. Je länger und öfter man das macht, je öfter man auch extremeren Situationen ausgesetzt ist, desto mehr weiß man das unter Kontrolle zu haben. Beim Sportklettern darf die Angst sowieso nicht dabei sein. Das ist außen vor. Das geht nicht. Man kann keine schwierigen Routen klettern, wenn man Angst vor dem Stürzen hat. Das funktioniert nicht. Das hat Wolfgang Güllich (Anm. d. Red: Sportkletterer und Stunt-Double für Sylvester Stallone in Cliffhanger, starb 1992 in Ingolstadt nach einem Autounfall) vor 20 Jahren schon genauso gesagt. Ich glaube, wörtlich hat er gesagt: "Wer Angst vor dem Stürzen hat, kann nie in die oberen Schwierigkeitsgrade vordringen können." Ich glaube, die brenzligsten Situationen treten tatsächlich beim Bergsteigen auf. Man ist da auch einfach immer mal wieder ungesichert unterwegs, in steilen Situationen, wo man sagt, man ist zwar sicher unterwegs, aber man kann sich nicht sichern, oder sichern ist zu aufwendig. Dann muss man das ungesichert gehen. Und da sind immer wieder Situationen dabei, wo einem bewusst wird: "Wenn ich jetzt einen Fehler mache, bin ich weg." Aber es ist kein Gefühl von Angst. Das ist einfach quasi eine verschärfte Wahrnehmung in dem Moment, wo man weiß, jetzt darf ich keinen Fehler machen.  Ganz provokant gefragt: Muss es eine Art von Lebensmüdigkeit geben bei so was?
 
Gebel: Nein, darf es überhaupt nicht geben. Hat gar nichts damit zu tun. Ist nie bei irgendjemandem das Ziel gewesen. Und wenn, dann macht er irgendwas verkehrt. Und dann, glaube ich, gibt es bessere Methoden, sein Leben aufs Spiel zu setzen, als Klettern oder Bergsteigen. Das ist einfach ein Blödsinn. Diesen wahnsinnigen Freeclimber, der, um der Grenze zwischen Leben und Tod nahe zu sein, solo (Anm. d. Red.: ohne Seil) in irgendwelche wilden Wände einsteigt – das gibt's eigentlich nicht. Ich kenne auch keinen, der so was macht. Gerade die, die solo unterwegs sind, wo das Risikopotenzial im Verhältnis am größten ist, das sind oft die, die am kontrolliertesten unterwegs sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Alexander Huber solo aus einer Wand fällt, ist wohl tausendmal geringer als dass irgendeine 5er-Seilschaft runterfällt.  Sind Sie schon einmal richtig heftig gestützt und haben sich vielleicht sogar schon einmal verletzt?
 
Gebel: Nein. Der größte, weiteste Sturz, den ich je unkontrolliert gemacht habe, dass ich unvorbereitet war, dass mir ein Griff ausgebrochen ist, das werden so an die zehn oder zwölf Meter gewesen sein. Da bin ich auf eine Platte gefallen und habe mich an Armen und Oberschenkel ein bisschen aufgeschürft. Und ansonsten habe ich schon Stürze bis 20 Meter gemacht. Die sind meistens beim Sportklettern und kontrolliert. Man weiß, man steht weit über dem Haken, ich habe sturzfreundliches Gelände unter mir. Da habe ich auch keine Angst vor dem Stürzen. Klar, bei 20 Metern schluckt man dann schon. Aber es ist immer kontrolliert. (Anm. d. Red: Gezieltes Wegspringen von der Wand, wenn einem beispielsweise die Kraft ausgeht, um dann mit den Füßen wieder an der Wand aufzukommen und nicht mit einem anderen Körperteil, um Verletzungen zu vermeiden.) Aber mir ist auch, toi, toi, toi, noch nie was Ernstes passiert. Aber ich habe auch schon viele Verletzungen und Unfälle mitbekommen.  Haben Sie Vorbilder?
 
Gebel: Ja. Vor fünf Jahren etwa hätte ich definitiv noch Wolfgang Güllich gesagt. Ist auch heute noch irgendwo so, weil es sind nicht die, die wahnsinnige Leistungen erbringen. Sondern es gibt ein paar Persönlichkeiten in diesem Sport, bei denen man das Gefühl hat, die bringen ein gewisses Charisma mit. Und ich denke, als Personen dürften das Wolfgang Güllich und Kurt Albert sein. Jean-Bapiste Tribout bei den Franzosen. Der ist einer, bei dem ich sage, der hat Charisma. Die Lynn Hill (Anm. d. Red.: erfolgreiche Kletterin und erster Mensch an der legendären „Nose“ im Yosemit-Nationalmark) ist unglaublich, wenn man die mal gesehen hat. Sie hat eine Aura unabhängig davon, was sie jemals geklettert ist oder was sie macht oder wie sie drauf ist. Als ich sie das erste Mal persönlich gesehen habe, merkte ich zwei Minuten, bevor sie ums Eck kam, schon diese Aura, die sie vor sich herschiebt. Das ist wirklich begeisternd. Ich glaube, sie wäre genauso drauf, das wäre die gleiche Persönlichkeit, wenn sie einen anderen Sport gemacht hätte oder auch nicht so beeindruckende Leistungen vollbracht hätte. Aber das in Kombination sind schon so Leute, vor denen ich wahnsinnigen Respekt habe.  Haben Sie ein Motto?
 
Gebel: Nein. Keines, das ich spontan wiedergeben könnte. Ich könnte wohl jetzt einen Haufen kluger Sprüche von mir geben, aber kein direktes Motto.  Gibt's denn eine Route, die besonders toll war oder besonders schwierig? Einfach eine, die in Erinnerung geblieben ist.
  Gebel: Zu viele. Wir haben vorletztes Jahr in Südafrika eine Erstbegehung gemacht am Yellowwood Amphitheater. So eine alpine Mehrseillängenroute. (Anm. d. Red.: Eine Seillänge verbindet immer den Sicherer mit dem Kletterer.) Das waren mit Sicherheit die schönsten Längen, die ich je von unten erstbegehen durfte. Es war ein unglaubliches Gelände. Quasi so, wie man sich als Ersteigender die perfekte Länge vorstellt. Dass man einfach weit vom Haken ins Ungewisse wegklettern kann. Dass immer wieder Stellen kommen, wo man sich sichern kann. Und die schwersten Routen bleiben in Erinnerung. Ich habe auf Madagaskar mit meiner Frau zusammen eine außergewöhnlich schwere Erstbegehung gemacht. Die ist erst letztes Jahr das erste Mal freigeklettert worden. Oder auch die Routen in Amerika. Da gibt's so wahnsinnig viele. Eine ganz spezielle gibt es, glaube ich, nicht. Ich habe einfach zu viele schöne gemacht.  Wie oft sind Sie denn unterwegs?
 
Gebel: Aktuell mag ich‘s gar nicht sagen, weil es echt peinlich ist. Ich habe Jahre gehabt, da hatte ich 250 bis 300 Klettertage. Da war ich echt viel unterwegs. Momentan würde ich sagen definitiv einen Tag pro Woche. Meistens zwei Tage pro Woche. Wenn‘s mal gut läuft, schaffe ich es auch mal drei Tage irgendwohin. Was aber oft nicht ganze Tage sind, sondern das ist mal ein Mittwochabend in der Kletterhalle oder den Samstagnachmittag trainieren. Wir haben eine Boulderwand zu Hause. Die ist relativ groß. Selbst, wenn ich da zwei Stunden was dran mache, dann sehe ich das als Kletter- oder Trainingstag an.    
Am 11.2.2012 richtet Daniel Gebel im Kletterzentrum Ingolstadt das Boulderturnier "Plastikfieber" aus. Los geht es um 10 Uhr.