"Ich hätte niemals gedacht, dass das möglich ist"

26.10.2018 | Stand 02.12.2020, 15:22 Uhr

Der Triumph bei der Europameisterschaft 1993 in München ist bis heute der einzige Titel einer deutschen Basketball-Nationalmannschaft.

Herr Gnad, wie wurde aus einem 2,08 Meter großen Mann namens Hans-Jürgen der Hansi?

Hansi Gnad: Ich bin bestimmt nicht mehr so groß, denn im Alter gibt man ja ein paar Zentimeter ab (lacht). Wegen des Namens: keine Ahnung. Vor dem Basketball war ich Leistungsschwimmer, und da ist das schon entstanden. Seitdem war ich immer der Hansi. Hans-Jürgen sagt ja keiner, höchstens meine Oma. Das ist mir aber auch ziemlich unwichtig (lacht).

Vor inzwischen 25 Jahren gewann die deutsche Basketball-Nationalmannschaft mit Ihnen als Kapitän in München sensationell den EM-Titel - das haben nicht mal Detlef Schrempf und Dirk Nowitzki geschafft. Was hat dieses Team so besonders gemacht?

Gnad: Wir waren wirklich eine Mannschaft. Wir haben uns über Jahre hinweg gefunden, der Kern von zehn Jungs war zu den wichtigen Ereignissen immer zusammen. Und in diesem Sommer passte es einfach zusammen. Obwohl es ziemlich holprig losging und wir in der Vorrunde in Berlin einige Probleme hatten.

Der Auftakt ging gegen Außenseiter Estland in die Hose, zudem hatte das deutsche Team trotz Heim-EM einige "Geister-" und "Auswärtsspiele".

Gnad: Die Atmosphäre war eine Katastrophe. Eigentlich waren wir mit unseren Familien unter uns. Außer gegen die Türken und die Belgier, die eine richtige Marschkapelle dabeihatten. Da herrschte eine geile Stimmung in der Halle.

Zwischendurch plagte Sie auch noch eine Magen-Darm-Grippe.

Gnad: Es gab ein Virus, das einige von uns mal zum Aussetzen zwang, auch mein Zimmerkollege Chris Welp war betroffen. Vielleicht war das aber eine Art Geheimrezept, dass man sich mal ein, zwei Tage ausruhen konnte. Bei uns ging es erst in der Finalrunde in München los, dass wir einen ordentlichen Ball spielten.

Der Serbe Svetislav Pesic hatte die amateurhaft strukturierte Nationalmannschaft 1987 ohne Deutschkenntnisse als Bundestrainer übernommen. Wie haben Sie sich verständigt?

Gnad: Der Verband hatte einen Dolmetscher engagiert, der die Ansagen während des Trainings und in den Auszeiten der Spiele übersetzte. Die Anfangszeit muss für Svetislav extrem frustrierend gewesen sein, denn er war es aus dem ehemaligen Jugoslawien gewohnt, mit den besten Jugendspielern Europas zusammenzuarbeiten. Dann kam er nach Deutschland und war plötzlich Chefcoach einer drittklassigen Nationalmannschaft. Er hat oft ziemlich getobt an der Seitenlinie. Der Dolmetscher übersetzte immer nur knapp. In etwa: "Ihr spielt schlecht und sollt euch mehr anstrengen." (lacht) Da musste der eine oder andere schon mal grinsen, was Svetislav noch mehr in Rage brachte. Aber er hat uns in den sechs Jahren bis zum EM-Titel geführt.

Vor dem Turnier 1993 kündigte Pesic selbstbewusst an, dass Deutschland um eine Medaille mitkämpfen könne und wolle. Haben Sie daran geglaubt, dass das möglich ist?

Gnad: Ach Quatsch! Niemals! Als Kapitän durfte ich vor dem Turnier über die Prämien verhandeln. Unser großes Ziel war das Erreichen der Finalrunde in München. Wir dachten, dass wir darauf unser Augenmerk legen müssen, um ein paar Kröten zu kriegen. Für eine Medaille oder gar einen Finalsieg hätte ich auch 100.000 Mark verlangen können, das hätten die unterschrieben. Und wir Doofköppe haben das nicht gemacht, weil das so weit weg war. Aber der Verband hätte das sowieso niemals zahlen können (lacht).

Wie wild war die Feier nach dem Finalsieg gegen Russland?

Gnad: Die Feier war ziemlich bescheiden. Nach zwei Wochen Turnier mit allen Strapazen waren wir im Eimer. Wir waren froh, dass wir es hinter uns hatten und mit unseren Familien quatschen konnten. Nach dem Siegerbier in der Kabine waren wir zwar so weit, dass wir noch weggehen wollten, aber viel haben wir nicht mehr gemacht. Wir sind nicht so spät ins Bett gegangen. Ein paar sind sicherlich trotzdem abgestürzt, die gibt's ja immer.

Von Ihrem Teamkollegen Henning Harnisch ist überliefert, dass er die Party an einem See im Allgäu hat ausklingen lassen.

Gnad: (lacht) Das kann ich mir vorstellen! Ich bin mir auch ganz sicher, dass die Offiziellen unseres Verbandes mehr gefeiert haben als wir Spieler.

Mit Pesic klappte es aber nicht immer so gut wie im Sommer 1993. Wenig später sind Sie bei Alba Berlin mit ihm aneinandergeraten.

Gnad: Ein paar Monate mit der Nationalmannschaft unter ihm zu spielen ist etwas anderes als zwölf Monate im Verein. Es ging nicht um das Training, das war kein Problem. Aber wenn mich einer behandelt wie ein kleines Kind, sind irgendwann Grenzen erreicht. Wenn mich abends jemand anrufen muss, ob ich zu Hause bin - das brauche ich nicht.

Sie gelten als Basketball-Spätberufener. Erst als 20-Jähriger starteten Sie an der Universität in Anchorage durch, halten dort noch immer diverse Rekorde und sind in die Ruhmeshalle aufgenommen worden. Wie lange hat es gedauert, bis Sie sich als junger Darmstädter im kalten Alaska wohlgefühlt haben?

Gnad: Als ich das Stipendium angeboten bekam, bin ich mit einem amerikanischen Kumpel aus meiner Mannschaft in Darmstadt rübergegangen. Die ersten paar Wochen musste ich mich schon durchkämpfen, aber ich wollte mir nicht die Blöße geben und wieder abhauen. Als dann die Uni losging und ich in den Alltag reinkam, habe ich mich schnell eingewöhnt. Beim Basketball konnte ich mich austoben, das war wichtig.

Ihren englischen Wortschatz verbesserten Sie unter anderem bei einem Ferienjob als Bauarbeiter. Es gibt die Anekdote, dass Ihr Trainer Sie für jedes F-Wort beim Training eine Extrarunde mit der Hantel hat laufen lassen. Wie viele waren es?

Gnad: Mein Vater hat unser Haus selber gebaut, und ich durfte immer mit anpacken. Von daher konnte ich arbeiten. Das Klientel, das dort in Alaska auf dem Bau arbeitete, drückte sich nicht immer gewählt aus (lacht). Mein Englisch war nicht so doll, und die ganzen Schimpfwörter habe ich mir innerhalb von vier Wochen draufgepackt. Beim Training musste ich dann ziemlich viel Strafarbeit verrichten.

Stimmt es, dass Ihnen Ihr Trainer sogar einen Mundschutz verpasst hat, nachdem Sie wegen Fluchens auf Deutsch ein technisches Foul kassiert haben?

Gnad: Ja, das war so ein Zahnschutz, mit dem man kaum reden konnte. Mit Schimpfen war da nicht mehr viel, obwohl ich meistens über mich selbst geflucht habe. Mit dem Teil konnte ich kaum atmen. Da habe ich lieber meine Klappe gehalten und durfte es wieder ablegen (lacht).

Zweimal hätten Sie es Ende der 80er-Jahre beinahe in die NBA geschafft, die beste Liga der Welt. Warum hat es in Philadelphia und in Miami nicht geklappt?

Gnad: Das ist simpel: Weil meine damaligen Berater nicht gut genug waren. Ich hatte den Vertrag von Philadelphia auf dem Tisch liegen, aber keine Arbeitserlaubnis für die USA. Die war damals auch so schnell nicht mehr zu bekommen. Es hatte keiner damit gerechnet, dass sich wirklich ein NBA-Klub für einen Hansel aus Deutschland interessiert, der nie in irgendeiner Auswahlmannschaft gespielt hatte.

Und in Miami?

Gnad: Die Heat waren ein neues Team in der Liga und hatten mich ausgewählt. Ich war den ganzen Sommer im Trainingslager und bekam schließlich einen Vertrag für ein Jahr mit einer Option auf das zweite. Aber - das muss ich klar so sagen - der Verein hat mich beschissen. Kurz vor dem Saisonstart hatte ich mir die Achillessehne gezerrt und konnte nicht spielen. Der Klub kaufte mir ein Flugticket nach Deutschland und sagte mir, ich solle mich dort auskurieren und wieder in Form kommen. Mein Agent empfahl mir, das zu machen. Am nächsten Montag schlage ich in Deutschland die Zeitung "USA Today" auf, und dort stand, dass ich suspendiert worden sei. Obwohl Miami das Ticket für mich gekauft hatte! Ich bin ja nicht einfach so weggeflogen. Heute weiß ich, dass ich nur zur Spielergewerkschaft hätte gehen müssen. Aber damals wusste ich nicht mal, dass es so etwas gibt. Ich kam aus Alaska und hatte keine Kontakte. Damit war das Kapitel NBA für mich abgeschlossen.

Den NBA-Stars begegneten Sie später trotzdem: Bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona spielten Sie mit Deutschland gegen das "Dream Team" der US-Amerikaner um Michael Jordan, "Magic" Johnson und Larry Bird. War es trotz der erwartbar deutlichen Klatsche (68:111) das aufregendste Spiel Ihrer Laufbahn?

Gnad: Das war natürlich eine supergeile Erfahrung. Schon beim Einmarsch ins Olympiastadion war die Hölle los, da herrschte minutenlang Gänsehautstimmung. Alle wollten diese Jungs sehen, und wir durften sogar gegen sie spielen. So eine Kombination von Spielern und Persönlichkeiten wird es nie wieder geben, ohne den heutigen Profis wie LeBron James, Steph Curry oder Kevin Durant zu nahe zu treten.

Nach Ihrer Karriere waren Sie Assistenztrainer der Nationalmannschaft und mussten dort mitunter auch fachfremde Aufgaben übernehmen: Bei Olympia 2008 in Peking fungierten Sie als Bodyguard für Dirk Nowitzki.

Gnad: Egal wo wir mit Dirk auftauchten, mussten wir schauen, dass wir ihn durch die Massen bekommen. Dirk ist so nett und schreibt 150 Autogramme nach dem Training, während alle anderen warteten. In Peking war das noch extremer, vor allem die freiwilligen Helfer im olympischen Dorf belagerten ihn regelrecht. Da mussten wir des Öfteren den Weg freimachen. Mit meiner Größe ging das ganz gut.

Als Vereinstrainer sind Sie seit 2003 - bis auf ein kurzes Erstliga-Intermezzo in Düsseldorf - unterklassig tätig. Frustriert es Sie als Ex-Rekordnationalspieler, dass Sie sich nicht auf höchstem Niveau beweisen dürfen?

Gnad: Ich wollte nach meiner Karriere mein Basketball-Wissen an junge Leute weitergeben. Diesen Weg bin ich bei einem kleinen Verein in Wuppertal und jetzt in Leverkusen gegangen, wo wir meiner Meinung nach mit bescheidenen finanziellen Mitteln erfolgreich arbeiten. Für mich war nie wichtig, in welcher Liga ich Trainer bin. Ich bin als Spieler kein einfacher Typ gewesen und dem einen oder anderen sicher mal auf den Schlips getreten mit meiner Meinung. Die Quittung habe ich bekommen, aber da bin ich nicht böse drüber, denn ich kann in den Spiegel gucken.

Das Nationalteam hat unter Bundestrainer Henrik Rödl - ebenfalls ein Europameister von 1993 - souverän die Qualifikation für die WM 2019 in China geschafft. Was ist der Mannschaft, von der viele sagen, sie sei die stärkste der deutschen Basketball-Geschichte, zuzutrauen?

Gnad: Es kommt darauf an, ob alle NBA-Spieler dabei sind. Aber es ist schon Luxus: So einen breiten Kader und so viele individuell gute Spieler hatte Deutschland noch nie.

Das Gespräch führte Alexander Petri.