Hilpoltstein
Größer als Hawaii

14.07.2016 | Stand 02.12.2020, 19:33 Uhr

"Wir sind Triathlon", lautet das bescheidene Motto in Roth. Hier präsentiert von Chrissie Wellington. ‹ŒArch - foto: Kofer

Hilpoltstein/Roth (DK) 82 Spinner und ein paar Hundert Zuschauer. Der erste Triathlon in Roth vor über 30 Jahren lässt nicht unbedingt erahnen, dass dieser seltsame Dreikampf aus Schwimmen, Radfahren und Laufen sich ausgerechnet in der Sportprovinz zum größten Triathlon der Welt entwickeln wird.

"Es war einfach vogelwild", erinnert sich Veranstalter Detlef Kühnel an den ersten Frankentriathlon 1984. Es gibt ein Video von damals. Es zeigt Sportler, die sich nach dem Schwimmen neben dem Rad umziehen. Nackte Hintern sind zu sehen, ein paar Zuschauer, meist Freunde, klatschen. Die Zeiten werden auf Zuruf mit der Hand gestoppt. "Ich hätte mir nie träumen lassen, welche Größe das erreicht", sagt Landrat Herbert Eckstein, ein Fan der ersten Stunde, der jedes Jahr "seine" Landkreisstarter anfeuert.

"ROTH KENNT KEINE SAU"

 

1984 glaubt niemand, dass Triathlon in Roth einmal eine so große Erfolgsgeschichte werden würde. Außer Detlef Kühnel. Der gelernte Bautechniker aus Roth hält es mit dem amerikanischen Motto: "Think big." Kennengelernt hat er es auf Hawaii. Dort ist er 1982 als einer von sechs Europäern bei der legendären Ironman-WM gestartet. Sportlich ist die Quälerei über 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42,195 Kilometer Laufen am Stück ein Desaster. Aber Kühnel bringt die Idee vom Triathlon in seine mittelfränkische Heimat.

Mit einem Trick. Kühnel schreibt an Valerie Silk, die Veranstalterin des Ironman auf Hawaii. Er will die Lizenz für Europa. "Ich habe mächtig auf den Putz gehauen", erinnert sich Kühnel. Er wolle den Ironman in der Olympiastadt München veranstalten, behauptet Kühnel frech. Das sei bayernweit politisch gewollt. Sein Kalkül: "Roth kennt keine Sau, aber München, das kennen die Amis." Er lädt Silk zum Wettkampf nach Roth ein und hofft, dass er ihr München wieder ausreden kann. In Roth säumen über 50 000 Zuschauer die Strecke, eine Sensation für diese Randsportart. Silk ist begeistert, und so kommt 1988 der Ironman in die sportliche Provinz. Und das ist gut so.

"Es liegt an der Bevölkerung", erklärt Felix Walchshöfer kurz und bündig das Erfolgsgeheimnis. Er managt das Großereignis, das heute Challenge heißt. Als Kind ist er noch mit Luftballons neben Ironman-Champion Jürgen Zäck ins Ziel eingelaufen. "Wir haben heuer über 6000 Helfer. Das ist alles andere als normal", jubelt Walchshöfer. Die Menschen im Landkreis lieben das Sportereignis. Sie tun alles für den Wettkampf. Helfer nehmen sich Urlaub, um Wechselzonen aufzubauen, Startnummern auszugeben, Badekappen zu beschriften, Ergebnisse auszuwerten. Die Feuerwehren regeln den Verkehr, Vereine bauen überall entlang der Radstrecke Verpflegungsstationen auf, Bauhöfe sperren Straßen ab, jedes Dorf organisiert ein Stimmungsnest. Alles für ein T-Shirt und ein Fest für die Helfer.

Weil es im Landkreis kaum Hotels gibt, wird es schwierig, die zunehmende Flut an Startern aus der ganzen Welt unterzubringen. Doch aus der Not wird eine Tugend: Viele Privatleute räumen Zimmer frei und verpflegen die Athleten. Am Renntag stehen sie mitten in der Nacht auf, um "ihren" Athleten zum Schwimmstart an den Main-Donau-Kanal fahren. Sie stehen den ganzen Tag an der Strecke, reichen Verpflegung, fiebern mit, leiden mit.

"Eigentlich kommt man nach Hause", sagt Urs Grieder. Der 57-jährige Schweizer startet seit fast 30 Jahren in Roth. Selbst als einmal sein Arzt nur eine Woche vor dem Wettkampf ein Loch in der Lunge diagnostiziert, geht Grieder an den Start. Er schwimmt nur ein kurzes Stück und steigt dann aus dem Main-Donau-Kanal. "Ich wollte, dass die Serie nicht unterbricht", sagt Grieder. Wegen der Atmosphäre von Roth. "Die ist mit nichts zu vergleichen", sagt Grieder, der immer im gleichen Gasthof wohnt.

"Der Homestay ist ein ganz wichtiger Eckpfeiler", betont Felix Walchshöfer. Er hat auch eine Art Bumerangeffekt. Immer wieder werden aus Gastgebern selbst Ironmänner und -frauen. Wie bei Anja und Markus Schülke aus Hilpoltstein. Jedes Jahr zum Challenge verwandelt sich ihr Haus in eine Triathlon-WG. "Es geht immer rund bei uns. Da ist Full House", erzählt Anja Schülke. Freunde wohnen hier und Topathleten wie die Vorjahressiegerin Yvonne van Vlerken. Im vergangenen Jahr bestritt auch Hausherrin Anja Schülke das erste Mal den kompletten Wettkampf. Van Vlerken gibt ihr viele Tipps und schenkt ihr ihre alte Rennmaschine. Anja kommt überglücklich ins Ziel. Gefeiert wird abends mit Siegerin Yvonne. "Die Herzlichkeit, die sich über so lange Zeit hält, ist das Begeisternde", schwärmt Landrat Herbert Eckstein.

Es gibt aber auch dunkle Wolken über dem Rother Triathlon. Als der Wettkampf noch Ironman Europe heißt, tönt Veranstalter Detlef Kühnel in dieser Zeitung: "Roth ist größer als Hawaii." Da sind Quelle und Post Hauptsponsoren, das ZDF überträgt live. Die amerikanischen Lizenzgeber sind alarmiert und demonstrieren bei den nächsten Vertragsverhandlungen ihre Macht. 2001 kommt es zum Bruch. Roth bekommt keine Ironman-Lizenz mehr. "Ich war ihnen immer zu groß und zu erfolgreich", sagt Kühnel. Er zieht sich zurück.

Sein Pressesprecher Herbert Walchshöfer springt in die Bresche. Er hebt eine neue Veran-staltung aus der Taufe, den Challenge. Die Starterzahlen sacken dramatisch ab von 3500 auf 1350. Das deutsche Ironman-Rennen geht jetzt in Frankfurt über die Bühne. Roth droht das Aus. "Jeder hat gedacht, es geht den Bach runter", erinnert sich Landrat Eckstein.

Und wieder wird aus der Not eine Tugend. In Roth sind jetzt auch Staffeln erlaubt. Sie retten den Wettbewerb fürs Erste. Nach und nach kehren viele Athleten nach Roth zurück. Wegen der Freunde, der Zuschauer, der Atmosphäre, die es sonst nirgendwo auf der Welt gibt. Zur absoluten Stimmungshochburg entwickelt sich der Solarer Berg, die berühmte Erhebung in Hilpoltstein. Hier stehen Zigtausend Zuschauer und peitschen die Radfahrer nach oben. Teilnehmer zücken hier ungläubig ihre Smartphones aus dem Trikot, um die Zuschauer zu fotografieren. Vielen läuft beim Anstieg die Gänsehaut über den Rücken. Selbst bei der Tour de France herrscht keine ähnliche Euphorie. "Der Solarer Berg ist schier explodiert", sagt Felix Walchshöfer. Das Bild von den Massen erscheine in der Berichterstattung häufiger als jedes Zielfoto vom Sieger. Der Berg sei wie ein Staubsauger, der die Massen anziehe. Darunter leiden gelegentlich die kleinen lokalen Stimmungsnester in Greding, Thalmässing und Heideck.

5000 STARTER, EIN STAR

 

Dem Wettkampf tut das keinen Abbruch. Das Starterfeld hat längst wieder alte Größe erreicht, ja übertroffen. In diesem Jahr gehen knapp 3500 Einzelkämpfer und 650 Staffeln auf die Strecke. Die Sportler kommen aus 68 Nationen. Star in diesem Jahr ist der amtierende Ironman-Weltmeister Jan Frodeno, Sportler des Jahres 2015. Auch Landrat Eckstein wird wieder an der Strecke stehen, "aber da, wo nicht so viele Leute sind". Auch solche Ecken gibt es beim Spektakel Challenge. Nur sind sie nicht mehr so leicht zu finden wie beim ersten Frankentriathlon 1984.