Zahling
"Hymne und Ehrenrunde gingen unter die Haut"

Blick zurück ins Jahr 1991: Gewinn der Vize-Weltmeisterschaft war Helmut Bradls größter Erfolg in seiner Karriere

12.05.2020 | Stand 23.09.2023, 12:00 Uhr
Schnell unterwegs: Helmut Bradl 1991 auf seiner Honda, mit der er in der 250-ccm-Klasse Vize-Weltmeister wurde. −Foto: Archiv

Zahling - Die 1980er-Jahre und die erste Hälfte des folgenden Jahrzehnts waren die erfolgreichste Zeit des deutschen Motorrad-Rennsports.

 

Am meisten geprägt hat diese Ära der fünffache Weltmeister Toni Mang, die deutsche Motorrad-Legende schlechthin. Aber es gab noch eine Reihe weiterer Piloten, die in dieser Zeit zur Weltspitze zählten: Reinhold Roth etwa, 1987 und 1989 jeweils Vize-Weltmeister in der 250-ccm-Klasse. Oder Martin Wimmer, Dirk Raudies (125-ccm-Weltmeister 1993) sowie der 2018 verstorbene Ralf Waldmann, der 20 Grand-Prix-Siege einfuhr. Und dann natürlich auch Helmut Bradl, damals Senkrechtstarter der deutschen Motorradszene. "Keine Frage, 1991 war meine erfolgreichste Saison", blickt der Zahlinger noch einmal auf dieses für ihn so erfolgreiche Jahr zurück, in dem er in der Viertelliterklasse trotz seiner fünf Siege knapp hinter dem Italiener Luca Cadalora "nur" Vize-Weltmeister geworden war.
In der Endabrechnung fehlten Bradl (gesamt 220 Punkte) nach Abzug der Streichresultate 17 Zähler - oder nach der damaligen Punkteverteilung ein zweiter Platz zum WM-Titel. "Einmal einen Scheiß gebaut. . . ", sinniert der heute 58-Jährige über einen kleinen, aber verhängnisvollen Fehler, den er im viertletzten Rennen beim Großen Preis von San Marino im Autodromo Internazionale del Mugello gemacht hatte. In der WM-Gesamtwertung war Bradl Cadalora dicht auf den Fersen gewesen - und auf der Strecke nördlich von Florenz drauf und dran, den Rückstand weiter zu verkürzen. Über 17 Runden hatte Bradl im Rennen geführt, dabei stets den Atem seines Dauerrivalen gespürt. In Runde 18 nahm er auf der Start- und Zielgeraden das Gas zurück, ließ Cadalora passieren. "Ich wollte nicht ständig Führungsarbeit leisten und stattdessen verhindern, dass Luca in der letzten Runde wieder eine seiner berühmten Attacken reitet", erklärte er hinterher.

In der vorletzten Runde verlor Bradl aber die Kontrolle über seine Honda, weil er einen Dreikampf um den Sieg vermeiden wollte und sich zu lange nach dem näher kommenden Spanier Carlos Cardus umgedreht hatte. In einer lang gezogenen Rechtskurve rutschte Bradl das Hinterrad weg und er stürzte - der Titel war futsch. Diese Erkenntnis war wahrscheinlich schmerzhafter als die Schulterprellung, die er sich bei seinem Abflug zugezogen hatte. Da half es auch nichts mehr, dass er anschließend die Rennen in Brünn und Le Mans noch gewann. "Wenn man in der Endphase einen Nuller einfährt, ist das nicht mehr aufzuholen", erklärt Bradl, der für den MC Augsburg gefahren ist.
Nach dem Rennen in Mugello gab es noch eine versöhnliche Geste zwischen den beiden Rivalen aus Italien und Deutschland. Bei der Ehrenrunde ließ Cadalora Bradl auf seiner Maschine mitfahren. "Das hätte ich an seiner Stelle auch gemacht", erzählt Bradl, "sein Schmunzeln konnte man unter seinem Helm sehen". Kein Wunder, für Cadalora war's ein Doppelsieg. Er verbuchte die vollen 20 Punkte, Bradl hingegen ging leer aus - die Entscheidung im Kampf um die WM-Krone war gefallen.
Bradl gegen Cadalora - dieses Duell der beiden Honda-Werkspiloten elektrisierte seinerzeit die Motorradfans in beiden Ländern und wurde von den Medien entsprechend thematisiert. Es war die Zeit, als Tabakwerbung im Rennsport noch erlaubt war - und die Fahrer in ihren Lederkombis wie wandelnde Zigaretten aussehen ließ. Bei Bradl überwog Gelb-Rot-Weiß, die Farben von HB. Bei Cadalora dominierte das Blau von Rothmans. Der britische Tabakhersteller hat damals sehr viel Geld in den Motorsport gesteckt - "und war auch besser mit Honda verbandelt", weiß Bradl, weshalb er nur in "Anführungszeichen" ein Honda-Werksfahrer gewesen sei.
Auf der Asphaltpiste kämpften der Bayer sowie der Motorrad-Rennfahrer aus der Emilia-Romagna mit harten Bandagen - und wie Cadalora auch nicht immer mit fairen Mitteln. Der fünfte WM-Lauf, Cadaloras Heim-Grand-Prix in Misano, endete sogar mit einem Eklat. Die beiden Dominatoren in der 250-ccm-Klasse bekämpften sich dort mit allergrößter Härte. Vor der letzten Runde lagen beide gleichauf, als sich der Italiener zu einer üblen Aktion hinreißen ließ und Bradl fast von der Fahrbahn rempelte. "Das war schon kriminell", macht der Zahlinger noch heute deutlich. Damals bezeichnete er sie als "unfairste Attacke, die mir in meinem Lebens widerfahren ist". Beide Vorderräder rollten schließlich gleichzeitig über die Ziellinie - das Zielfoto sah Cadalora um neun Tausendstelsekunden vorne.

 

Der heute 56-jährige Cadarola war derart davon überzeugt, gewonnen zu haben, dass er gleich ganz oben aufs Siegerpodest stieg. Bradl platzte der Kragen, er zog sich wutentbrannt in sein Wohnmobil zurück, ließ Siegerehrung und Pressekonferenz sausen. "Ich habe das Zielfoto nicht gesehen, deshalb ging ich auch nicht aufs Podest", erklärt er heute. Den von HB-Racing-Teamchef Dieter Stappert eingelegten Protest schmetterte die Rennjury Stunden später ab.
Hinterher entschuldigte sich Cadalora zwar bei Bradl, aber die deutschen Motorradfans waren ob des Skandals aufgebracht und hatten ein neues Feindbild. Schon eine Woche nach Misano ging die deutsch-italienische Fehde in die nächste Runde. Nun stand Bradls Heim-Grand-Prix auf dem Hockenheimring an. Dort kam es, trotz einer öffentlichen Versöhnungsaktion, zu unschönen Szenen, als Cadalora von deutschen "Fans" mit Steinen und Dosen beworfen wurde. "Ich habe die Zuschauer damals über die Mikrofone besänftigen müssen", sagt Bradl. Im Rennen selbst gab der Zahlinger die sportliche Antwort auf Cadaloras "Rambo"-Aktion eine Woche zuvor, als er mit großem Vorsprung gewann. "Der Sieg vor heimischem Publikum war schon megageil", erinnert sich Bradl, "und wenn die Nationalhymne für dich gespielt wird und du im offenen Auto mit Siegerkranz um den Hals die Ehrenrunde fährst, geht das einem schon unter die Haut. "
Jahre später, als sich die Rivalen von einst immer wieder an den Rennstrecken der Welt über den Weg liefen, war die Sache von damals abgeschlossen. "Auch wenn ich wegen ihm den WM-Titel verloren habe, so war 20 Jahre später alles vergessen. Doch damals war ich halt schon ein bisschen nachtragend und ein verbohrter Spitzensportler", räumt Bradl schmunzelnd ein.
Nicht weniger emotional als der Triumph in Hockenheim hatte sich für Bradl zwei Wochen vorher sein erster Grand-Prix-Sieg überhaupt im spanischen Jerez angefühlt, den er seiner Ehefrau Gisela und seinem Sohn Stefan, damals noch nicht einmal zwei Jahre alt, widmete. Vor 200 000 Zuschauern gewann er das erste Rennen der Saison auf europäischem Boden hauchdünn vor Cadalora. In der Box fielen die Mechaniker, Bruder Max sowie der Aichacher Richard Brachard Bradl vor lauter Freude um den Hals. "Der erste Sieg war etwas Besonderes, das war wie eine Befreiung", erzählt Bradl. Denn seit er 1989 auf eine Werksmaschine gestiegen war, fuhr er einige Male aufs Podest, doch für ganz oben hatte es bis zum Rennen in Andalusien nie gereicht. Schon 1990 hatte sich angedeutet, dass er eines Tages zu den WM-Favoriten zählen würde. Die Saison 1990 beendete er wie jene 1992 als Vierter, obwohl er wegen eines komplizierten Knöchelbruches, den er sich im niederländischen Assen zugezogen hatte, drei Rennen verpasst hatte. Es war aber nicht Bradls einzige schwere Verletzung in diesem Jahr. Gleich nach Saisonende brach er sich bei einem Rennen auf dem Circuito del Jarama nahe Madrid auch noch Schien- und Wadenbein, als er mit den Beinen voraus massiv in eine Mauer krachte.
Weniger Glück hatte 1990 Bradls Landsmann Reinhold Roth, der drei Monate zuvor schwer verunglückte: Im Automotodrom Grobnik nahe Rijeka, wo Bradl genau vier Jahre zuvor seinen ersten WM-Einsatz absolviert hatte, erlitt der Amtzeller bei einem Aufprall auf einen vor ihm langsameren Fahrer ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und lag sechs Wochen im Koma. Seitdem ist der Amtzeller ein Pflegefall. Auf welchem schmalen Grat Motorrad-Rennfahrer wandeln, dürfte Bradl nach dem Rennen bewusst geworden sein. Denn er und Wimmer, die mit Roth das Führungstrio bildeten, konnten gerade noch ausweichen, Roth eben nicht mehr.
Nach der Saison 1993 endete Bradls Karriere abrupt. Mündlich hatte er seinen Vertrag beim HB-Racing-Team bereits verlängert, aber intern gab es Querelen. Statt auf Bradl setzte HB auf Ralf Waldmann. "Ich hatte keine Möglichkeit mehr, mich woanders umzuschauen", sagt Bradl, "ich war da dann schon beleidigt". Knall auf Fall hörte er auf, heute betreibt er gemeinsam mit seinem Bruder Max ein Motorrad- und Rasenmähergeschäft im heimischen Zahling (Gemeinde Obergriesbach). Auf einer Rennstrecke war Bradl dann mit einer Ausnahme, als er vor ein paar Jahren am Rande des Deutschland-Grand-Prix auf dem Sachsenring ein paar Runden drehte, nicht mehr zu sehen. Natürlich begleitete er aber die Karriere seines Sohnes Stefan bis zu dessen WM-Titel 2011 in der Moto2. Gefragt, wer denn nun der bessere Motorrad-Rennfahrer im Hause Bradl ist, lacht der Senior und sagt: "Stefan, weil er Weltmeister geworden ist. "

SZ

 

Herbert Walther