"Richtig crazy"

26.06.2020 | Stand 23.09.2023, 12:35 Uhr
Mehr Rotation, mehr Geschwindigkeit, mehr Weite: Theresa Reil feilt auf dem Reichertshausener Golfplatz an der Technik. Ihr Traum ist, sich mit den besten Long Driverinnen der Welt zu messen. −Foto: Missy

Pfaffenhofen - Theresa Reil ist in der Golfvariante Long Drive eine der besten Athletinnen des Landes. Ihr Sport verbindet extreme Spannung und Partyatmosphäre - die 26-jährige Scheyrerin soll dabei helfen, ihn populärer zu machen

 

Mehmet Scholl schaffte es einmal alle gängigen Klischees über den Golfsport mit gerade einmal 19 Wörtern zusammenzufassen. "Ich werde nie Golf spielen. Erstens ist das für mich kein Sport, und zweitens habe ich noch regelmäßig Sex", sagte er. Golf, so sagen diejenigen, die sich darüber lustig machen, ist eine Bonzenveranstaltung, eine Beschäftigung für alte reiche Männer. Nichts für die coolen Kids von der Straße. Theresa Reil ist weder ein Mann noch alt und ganz sicher keine Bonze. Trotzdem sagt sie nach einer Trainingseinheit, als sie ihr Golfbag in den Kofferraum ihres Kleinwagens legt: "Wenn man mich nach meinen Hobbys fragt, sage ich oft Handball. Die Leute haben noch zu viele Vorurteile."

Ein Freitagmorgen in Reichertshausen, wer die Klischees sucht, wird schon auf dem Parkplatz fündig. Kein Golfer ist mit einem kleineren Auto als Reil angereist, auf dem gepflegten Grün herrscht gediegene Stimmung. Menschen in Sport-Aktiv-Westen grüßen sich freundlich, niemand hier ist annähernd in dem Alter der 26-jährigen Studentin aus Scheyern. "Golf ist nicht so der Alte-Leute-Sport wie immer getan wird", sagt Reil. "Es spielen mittlerweile viele Junge Golf." Wenn aber etwa 40 Prozent der Aktiven einer Sportart älter als 60 Jahre alt sind, schadet es der Attraktivität nicht, eine dynamischere Variante auszukoppeln. Der Volleyball hat sein Beachvolleyball, der Langlauf sein Biathlon, der Fußball sein Futsal. Überall ist mehr Dynamik, mehr Spannung, mehr Lärm. Die Actionvariante des Golfsports heißt Long Drive. Schnelle Entscheidungen, laute Musik, Party auf den Zuschauerrängen - doch in Deutschland ist mit der Scheyrerin Reil eine Protagonistin das Aushängeschild dieser Sportart, die als Person überhaupt nicht laut ist. Will sie diese Rolle als Zugpferd einer Trendsportart überhaupt?

So richtig nach dieser Rolle gegriffen hat die 26-Jährige nicht. Seit etwa 16 Jahren spielt sie Golf, über die Familie ist sie zum Sport gekommen. Ihr drei Jahre jüngerer Bruder Benedikt spielte lange in der Golf-Bundesliga. Auch die Studentin war erfolgreiche Golferin bei bayerischen Meisterschaften und wurde mal bei der Sportlerehrung des Landkreises ausgezeichnet. Vor etwa drei Jahren, die Golfvariante Long Drive machte in Deutschland gerade ihre ersten Schritte, fand in München eine bayerische Meisterschaft statt. Reil nahm "eher aus Spaß" daran teil, schlug den Ball 249 Meter weit und gewann die Frauen-Wertung.

An dieser Stelle ein Einschub. Im Grunde erklärt schon die Übersetzung des Namens der Sportart die Grundzüge des Regelwerks: Es geht um Weite, beim Long Drive wird nicht versucht, den kleinen Golfball nacheinander in 18 kleinen Löchern zu versenken. Je nach Wettkampfmodus stehen vier bis sechs Golfer nebeneinander, haben 2.30 Minuten Zeit, um sechs Bälle möglichst weit entfernt vom Abschlagsort (Tee-Box) im Grid, einem etwa 55 Meter breiten Feld, zu platzieren. Der weiteste Schlag gewinnt. So hangelt man sich durch die K.-o.-Phase und tritt im Finale gegen einen anderen Athleten zum Eins-gegen-eins-Duell an.

Die zentralen Faktoren sind also Zeitdruck, Kraft, Technik und der direkte Vergleich mit dem Gegner. "Wegen der kurzen Zeit schießt der Blutdruck in die Höhe", sagt Reil. "Wenn man sieht, dass ein Gegner eine krasse Bombe hat fliegen lassen, muss man nachziehen." Als Long Driver müsse man körperlich und mental alles in jeden einzelnen Ball reinlegen - und ist "anschließend gut durchgeschwitzt", sagt Reil.

Besonders schweißtreibend ist es natürlich, wenn man besonders weit schlägt. "Ich hatte immer schon Spaß, an der Driving Range lange Bälle zu schlagen", sagt die Studentin. Und damit zurück zum Münchner Golfclub ins Jahr 2017.

Als Reil den Wettkampf in München gewann, traf sie erstmals auf den Profi-Long-Driver Martin Borgmeier. Der 29-Jährige trägt Vollbart, hat eine massive Oberarmmuskulatur und nimmt an der Sat.1-Show "The Mole" teil. Von Borgmeier gibt es wenige Bilder, auf denen er biedere Sport-Aktiv-Westen trägt. Würde man die Welt so oberflächlich wie Mehmet Scholl betrachten, könnte man vermuten, Borgmeier hat noch regelmäßig Sex. Der Münchner ist nicht nur einer der besten deutschen Long Driver, er will den Sport auch in Deutschland und Europa populärer machen und organisiert Events und Wettkampfformate.

Borgmeier sah sich Reils Technik an und ihre weiten Schläge und kam zu dem Schluss: So jemand tut dem Nischensport Long Drive gut. "Normalerweise haben Frauen eine Schlagflächenneigung von 11 bis 13 Grad", sagt Borgmeier. "Theresa hat fünf Grad. Sie ist eine der wenigen Frauen, die so eine außergewöhnliche Technik mitbringen." Deswegen habe er die Nachwuchs-Long-Driverin, die sich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht als Long-Driverin sah, animiert, das ganze Thema ein bisschen zu intensivieren.

Also intensivierte die Scheyrerin ihr langes Spiel. 2018: Wieder Erste bei den bayerischen Meisterschaften. 2019: Dritte bei den deutschen und Zweite bei den bayerischen Meisterschaften. "Es macht Spaß, wenn man merkt, dass man mithalten kann", sagt Reil. Mithalten also. Borgmeier sagt: "Theresa hat ein extremes Zukunftspotenzial, die Weltspitze ist überhaupt nicht weit entfernt." Wie zum Beweis gelang vergangenen August im ersten Anlauf bei den European Long Drive Games auf Mallorca die Qualifikation für die WM.

 

Reil wusste schon vor ihrem ersten Wettkampf im Ausland, dass beim Long Drive eine komplett andere Atmosphäre als beim konventionellen Golf herrscht. Jetzt spürte sie die Wucht dieser Sportart aber am eigenen Leib. "Man hört die Musik wegen der tollen Anlage über den ganzen Golfplatz, die Zuschauer grölen, singen, sind in Partystimmung", sagt Reil. "Das war unglaublich professionell organisiert." Eine Veranstaltung ganz nach dem Geschmack von Borgmeier, einer der Veranstalter des Turniers auf Mallorca. "Long Drive ist absolutes Entertainment, es ist kurzweilig und adrenalingeladen", sagt Borgmeier, "und hat die schnellsten Bälle und weitesten Distanzen."

Während in den USA schon seit 1976 Long-Drive-Weltmeisterschaften ausgetragen werden, gibt es die Sportart in Europa seit etwa sechs, in Deutschland erst seit zwei bis drei Jahren. Borgmeier will Long Drive populärer machen - und zwar so, wie er seine Bälle schlägt. Mit maximaler Kraft. Die Show ist kein Beiwerk zum Sportlichen, sondern inhärenter Teil. Es geht um Adrenalin, Energie, Kraft, laute Musik, feiernde Zuschauer, schreiende Sportler, die den Gegner nicht besiegen, sondern "fertig machen wollen", wie Borgmeier sagt. "Golf ist nicht nur für Rentner in Karo-Hosen", findet der 29-Jährige, der auch mal eine Tattoo Convention am Rande eines Turniers organisiert. "Ein Long-Drive-Event hat den Charakter einer Darts-WM."

Es gibt wenige Orte, die dem Darts-Sport-Mekka so unähnlich sind wie der Golfplatz in Reichertshausen. Reil hat ihr Golfbag zur Driving Range getragen und schwingt ein paar Aufwärmschwünge. Der Sieg auf Mallorca sei überraschend gewesen, sagt sie zwar, darauf gehofft habe sie aber schon. Nachdem sie sich mit kleineren Eisen etwas eingespielt hat, spielt sie die ersten Bälle mit dem Driver, dem Schläger für das lange Spiel. Schulterbreite Beinstellung, Reil blickt im Wechsel auf den Ball und in die Ferne. Das Tippen wenige Millimeter vor dem Ball wird immer langsamer und ruhiger. Dann holt sie weit über die rechte Schulter aus, verdreht den kompletten Körper, presst die Lippen zusammen und schlägt mit maximaler Kraft. Der Ball landet weit hinter dem gelben 200-Meter-Schild. Sie blickt dem Ball hinterher und sagt: "Der war ganz okay." Kein gespieltes Understatement, sie ist wirklich nicht komplett zufrieden.

Aktuell befindet sich die 26-Jährige in einer Technikumstellung. Sie will beim Schlag noch mehr ausholen. Das Risiko, den Ball nicht optimal zu treffen, steigt, die Chance auf weitere Distanzen aber auch. Über den Winter feilte sie nahezu täglich an der Technik mit Schlägen in ein Fangnetz in der heimischen Scheune. Dazu kommt spezifisches Krafttraining für die Oberschenkel und den ganzen Oberkörper. Das Ziel ist eine Schlägerkopfgeschwindigkeit im Bereich von 190 Kilometern pro Stunde. "Aktuell schreibe ich meine Masterarbeit, da kann ich mir die Trainingszeiten ganz gut einteilen", sagt sie.

Am Einsatz soll es also nicht scheitern. "Theresa ist sehr ehrgeizig", sagt Borgmeier, der inzwischen eine Art Mentor für Reil ist. "Das Talent für die Technik ist da und sie wird sich auch körperlich weiterentwickeln." Mindestens genauso wichtig für den 29-Jährigen ist aber Reils Fähigkeit, Feedback anzunehmen. "Sie lässt sich Dinge erzählen und hat mit Lee Cox den weltbesten Coach." Der Engländer hatte auch die Technikumstellung angeregt. Vergangenen Dezember war die Scheyrerin fürs gemeinsame Training bei Cox in London ("Es ist eine Ehre mit dem Trainer, der die europäischen Top-Spieler betreut, zu arbeiten"), ansonsten analysieren sie gemeinsam Videos.

Da war der nächste Schritt nur logisch. Seit diesem Jahr hat die 26-Jährige auch offiziell den Status eines Profi-Long-Drivers. Sie ist bereit dazu, viel Zeit in den Sport zu stecken. Sie hat das Talent und den Arbeitswillen, die Erfolge geben dem Weg recht. "Ich möchte möglichst weit nach oben und schauen, was alles möglich ist", sagt Reil. "Lee hilft mir dabei, die körperlichen Fähigkeiten an den Schwung anzupassen und das Maximale herauszuholen."

Sollte die Entwicklung so weitergehen, würde es Borgmeier nicht wundern, wenn die 26-Jährige in nicht allzu ferner Zukunft Weltmeisterin wird. Sportlich kommt sie also gar nicht drumherum, in Deutschland ein Zugpferd des Long Drivings zu sein. Reil ist ein zurückhaltender Mensch, ihr Sport aber eine laute Show-Veranstaltung, die mit möglichst viel Aufmerksamkeit aus der Nische will.

Also: Manege frei, Long-Drive-WM in Thackerville, Oklahoma, im September 2019. Reil wärmt sich neben Weltmeisterinnen auf, spielt gegen Long Driverinnen, die den Sport seit 15 Jahren professionell betreiben. Sie kennt sie von Youtube oder Instagram. "Das war richtig crazy." Die Quali-Runden übersteht Reil zwar nicht, doch das Turnier hat Eindruck hinterlassen bei ihr. Die Zuschauerkulisse sei so beeindrucken gewesen, dass die 26-Jährige vor lauter Zittern den Golfball kaum auf das Tee bekam. "Die Amerikaner trinken Bier, grölen, läuten mit Kuhglocken", sagt sie. "Es gibt auch einen Live-DJ, da ist viel mehr Party als beim normalen Golf." Die Atmosphäre, der Zeitdruck, der Wettkampf im Angesicht des Gegners - kumuliert gibt das alles einen wahnsinnigen Adrenalinrausch. Mehr Rotation, mehr Risiko, mehr Geschwindigkeit, mehr Weite, alles ist extremer als beim normalen Golf.

Die Long-Driverin steht auf dem Golfplatz in Reichertshausen und strahlt, wenn sie von ihrem Sport und der WM in Thackerville erzählt. "Die Mädels sind richtig krass, es ist mein Traum, mich mit ihnen mal in einem Finale zu messen." Sie spricht nicht wie Borgmeier vom Titel und trotzdem: Gegen die Zugpferd-Rolle hat sie nichts. Weder auf und noch neben dem Golfplatz. "Es wäre cool, mit dem Sport eine gewisse Reichweite zu generieren und den Sport voranzutreiben." Es gebe ja ohnehin verschiedene Arten, auf Leute zu wirken, findet Reils Mentor Borgmeier. "Man muss nicht unbedingt die Trompete sein und immer vorne stehen, diesen Part übernehme dann ich", sagte der 29-Jährige und lacht. "Theresa macht das vor allem über Leistung."

Borgmeier ist einer der besten deutschen Long Driver. Wenn er über seine Sportart spricht geht es um Wellen mitnehmen, um mediale Präsenz und um Potenziale. Reil legt an der Driving Range den Ball zurecht und erklärt, wie man seinen Schlag an Wind- und Bodenverhältnisse anpassen muss. Noch in der Sekunde, in der der Ball das Tee verlässt, ruft die 26-Jährige ein langgezogenes "woaaaah". Der Ball fliegt irre weit, sie strahlt. "Dafür stellt man sich zwei Stunden lang auf den Golfplatz."

PK

Christian Missy