Bangen um den Titel

Die Corona-Krise könnte den FC Liverpool die erste Meisterschaft seit 30 Jahren kosten

15.04.2020 | Stand 23.09.2023, 11:37 Uhr
Anfield in Angst: Der FC Liverpool könnte den Meisterschaftstitel erneut noch verlieren. Sollte die Saison in der Premier League abgebrochen werden, würde den „Reds“ die so gut wie sichere Meisterschaft kurz vor dem Ziel aus den Armen gerissen. −Foto: dpa

29 Spieltage lang ist der FC Liverpool unaufhaltsam durch die Premier League Richtung Meisterschaft marschiert.
Doch aufgrund der Corona-Krise liegt der Spielbetrieb auf Eis – und der Titeltraum an der Anfield Road damit ebenso.

Am 7. März 2020 sitzt Ralf Lehmann an der legendären Anfield Road und bejubelt den 2:1-Sieg gegen den AFC Bournemouth. Es ist der 27. Sieg des FC Liverpool am 29. Spieltag der Premier League. Die 19. englische Meisterschaft, die erste seit 30 Jahren, ist zum Greifen nahe, der Vorsprung vor dem Tabellenzweiten Manchester City beträgt satte 25 Punkte. Fünf Tage später begeben sich die ersten Liga-Spieler in Quarantäne, am Tag darauf wird der Spielbetrieb aufgrund des Coronavirus unterbrochen. Und das Bangen beginnt.

Im Spiel gegen Bournemouth aber ist davon  noch nichts zu spüren. 53 323 Zuschauer sitzen an diesem Samstagmittag in Anfield. Die Virus-Krise hat Europa Anfang März bereits erreicht, doch in Liverpool ist sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht angekommen. „Da war die Welt noch in Ordnung“, sagt Lehmann. In England habe sich zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts geändert. „Man hat abends wie immer in Bars gefeiert, es war alles ganz normal.“

Liverpool tut sich schwer gegen den Tabellen-18., gerät in Rückstand, doch Mohamed Salah und Sadio Mané drehen die Partie. Es ist der 22. Heimerfolg der „Reds“ in Serie, nun fehlen nur noch zwei Siege zum Titel. „Da haben noch alle von der Meisterschaft geträumt“, sagt Lehmann. „Heute kommt mir das vor wie eine Ewigkeit, dabei ist es gerade einmal ein paar Wochen her.“

Ralf Lehmann ist Vorsitzender der „German Reds“, dem mit 450 Mitgliedern größten FC-Liverpool-Fanklub Deutschlands. Der gebürtige Dresdner verliebt sich in den 1980er-Jahren in den Klub aus dem Nordwesten Englands, als der LFC von Titel zu Titel eilt und Ian Rush die Fußballherzen erobert. „Das klang“, sagt Lehmann, „immer nach großer weiter Welt.“ Zweimal im Jahr fliegt er von Hamburg, wo er inzwischen wohnt, nach Liverpool, um seinen Herzensverein zu besuchen. Auch den Flug für Mai hat der 45-Jährige längst gebucht, er will bei der Meistersause  live dabei sein und mit Zehntausenden „Reds“-Fans in der Stadt am Mersey-River feiern. „In den letzten Wochen vor Corona war es ja so, dass man diesen Traum faktisch innerlich schon eingebucht hatte.“

Doch der droht nun zu zerplatzen. Zunächst wurde der Spielbetrieb der Premier League bis Anfang, dann bis Ende April ausgesetzt, inzwischen ruht er auf unbestimmte Zeit. Die Saison werde fortgesetzt, wenn es sicher und angemessen ist, teilte die Liga mit. Das Ziel sei es, alle nationalen Liga- und Pokalspiele zu spielen. Irgendwann aber drängt die Zeit, die Premier League hat noch neun Spieltage zu bestreiten. Die Saison der Amateurligen von der siebten Liga abwärts ist bereits annulliert worden. Passiert das auch in der Eliteliga, wäre es das Ende aller Meisterschaftsträume an der Anfield Road.

„Das wäre ein Szenario, das sich niemand ausmalen kann und will“, sagt Lehmann. „Sie spielen eine Jahrhundertsaison. Das kann man in Worten kaum ausdrücken, was es bedeuten würde, wenn sie den Titel nicht erringen könnten.“ Der Klub, so hungrig nach dem Meisterglück, würde  gestoppt so kurz vor dem Ziel, von einem unsichtbaren Gegner. Den ursprünglichen Termin für die Meisterfeier im Mai hat Lehmann längst aus seinem Kalender ausgetragen, doch noch ist er optimistisch, dass sie irgendwann nachgeholt wird – wie auch immer die Saison zu Ende gebracht wird.  

Ideen gibt es mehrere. Neben Spielen unter Ausschluss von Zuschauern kam der Vorschlag, die Saison in China fortzusetzen, weil sich das Land bereits wieder von der Corona-Krise erholt habe. Auch gab es Überlegungen, alle Teams an einem Ort in isolierten Camps unterzubringen und die ausstehenden 92 Partien in Turnierform auszuspielen. „Jede verrückte Idee ist es wert, durchdacht zu werden, um eine Lösung zu finden, die sicherstellt, dass die Meisterschaft zu Ende gespielt wird“, findet Lehmann. „Denn alles andere wäre wirklich dramatisch aus Sicht der Liverpool-Fans.“

Nur die belgische Variante, bei der Spitzenreiter FC Brügge trotz Saisonabbruchs zum Meister gekürt wurde, findet Lehmann nicht gut. „Dann wäre immer Raum für unnötige Diskussionen, dass man die Meisterschaft nicht bis zum letzten Meter sportlich errungen hätte“, sagt der Fanklub-Vorsitzende. „Mir persönlich wäre deutlich lieber, dass es noch irgendwie sportlich zu Ende gebracht wird im Laufe des Jahres. Selbst wenn es in einem anderen Modus wäre oder selbst wenn es spät ist und die neue Saison später gestartet werden müsste.“

Als Jürgen Klopp 2015 in Liverpool antrat, hatte er eine Botschaft für seinen neuen Verein. An seinem ersten Tag an der Anfield Road kündigte der Trainer an, er wolle die Zweifel wegräumen und künftig an das Gute glauben. Von „Doubters“ zu „Believers“ sollten sich die leidgeprüften Fans entwickeln. Daran will sich Ralf Lehmann nun auch in der Krise orientieren. „Ich hoffe bis zum letzten Tag“, sagt er, „dass alles gutgeht.“

 

Sehnsucht in Rot

Als der FC Liverpool im Jahr 1990 die englische Meisterschaft gewinnt, ist das Gefühl kaum noch ein besonderes. Schließlich ist es der 18. Titel dieses Traditionsvereins, in den 1970er- und 1980er-Jahren sind die „Reds“ meist das Maß aller Dinge. Dass dies der vorerst letzte Meistertriumph sein sollte, ist für die Fans unvorstellbar. Inzwischen wartet der Klub seit 30 Jahren  auf den Titel – die Sehnsucht ist immens und das  Leiden groß: Mehrmals ist Liverpool in den vergangenen drei Jahrzehnten nur knapp an der Meisterschaft gescheitert,  manche glauben längst an einen Titelfluch.  

Saison 2008/09

Der FC Liverpool startet fulminant in die neue Saison. Die Mannschaft um Steven Gerrard bleibt an den ersten zehn Spieltagen ungeschlagen und gewinnt achtmal, schlägt die Top-Teams Manchester United mit 2:1 und FC Chelsea mit 1:0. Die „Reds“ sind als Tabellenführer auf dem besten Weg zum ersehnten Titel, doch dann leistet sich der Klub meist gegen schwächere Teams einige unnötige Remis. Im gesamten Januar kann die Mannschaft von Trainer Rafael Benítez  kein einziges Liga-Spiel gewinnen.

Es beginnt ein Rennen um die Meisterschaft gegen Manchester United. Liverpool schafft die Wende, gewinnt zehn der letzten elf Partien und fegt den Erzrivalen auswärts mit 4:1 vom Platz. Nach 38 Spieltagen stehen nur zwei Niederlagen für den LFC zu Buche. Doch elf Unentschieden sind zu viel: Manchester United gewinnt die Meisterschaft mit vier Punkten Vorsprung. 

Saison 2013/14

Eigentlich ist der FC Liverpool  kein Meisterschaftsaspirant, spielt aber eine überraschend starke Saison.  Die Stürmer Luis Suárez und Daniel Sturridge schießen die „Reds“ von einem Sieg zum nächsten. Am 36. Spieltag kann der Klub unter Trainer Brendan Rodgers an der Anfield Road in der Partie gegen den FC Chelsea den Titel  klarmachen. Liverpool hat 16 Spiele in Folge nicht mehr verloren und elf Siege in Serie im Rücken. 5:1 gegen Arsenal London, 3:0 gegen Manchester United, 4:0 gegen Tottenham Hotspur, 3:2 gegen Manchester City.

Der Klub hat es selbst in der Hand, doch der 27. April 2014 wird zum Trauma für Gerrard. Die Liverpool-Legende rutscht  in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit auf dem Rasen aus, Chelseas Demba Ba nutzt  den Fehler zum 0:1. In der 94. Minute trifft Willian zum 0:2-Endstand. Eine Woche später führt der LFC gegen Crystal Palace nach 78 Minuten mit 3:0, spielt aber doch nur 3:3. Am Ende fehlen den „Reds“ zwei Punkte auf Champion Manchester City – und Gerrard bleibt der Meistertitel verwehrt.

Saison 2018/19

114 Punkte sind in einer Saison der Premier League maximal zu holen, der FC Liverpool erkämpft sich 97 – es ist die dritthöchste Punktzahl, die je ein Team in der besten englischen Fußballliga erreicht hat. Am Ende aber ist es ein winziger Zähler zu wenig. Nur weil Manchester City einen Punkt mehr erzielt, reicht es nicht zum Meistertitel.

Die „Reds“ mit den Starspielern Alisson im Tor, Virgil van Dijk in der Verteidigung sowie Sadio Mané und Mohamed Salah im Sturm verlieren in der gesamten Saison nur eine Liga-Partie – die allerdings ausgerechnet gegen die „Citizens“. Am 3. Januar 2019 schlägt die Mannschaft von Trainer Pep Guardiola den Titelrivalen zu Hause mit 2:1. Am Ende wird der LFC der beste Vizemeister in der Geschichte der ersten englischen Liga. Die Saison werde dennoch als die beste seiner Karriere eingehen, konstatiert Trainer Jürgen Klopp. Zwei Wochen nach der bislang letzten verpassten Titelsause gewinnt Liverpool mit einem 2:0-Sieg gegen Tottenham Hotspur zum zweiten Mal die Champions League.

Auch 2005 triumphieren die „Reds“ in der Königsklasse, 2001 im Uefa-Pokal. Doch ein Titel auf europäischer Ebene kann die nationale Durststrecke nicht aufwiegen. Der Stellenwert einer Meisterschaft in der Premier League ist weit größer, erklärt Ralf Lehmann vom deutschen Liverpool-Fanklub „German Reds.“ „Wenn man die Liverpool-Fans fragt, ob sie lieber die Champions League gewinnen wollen oder die nationale Liga, dann werden 98 Prozent sagen: die Premier League.“

Julia Pickl