Es ist eine Geste der Verzweiflung: Flehentlich blickt Ivan Lendl zum Stuhlschiedsrichter und breitet die Arme aus.
Sein Gegenüber in diesem Achtelfinale der French Open 1989, der 17-jährige Nobody Michael Chang, hat Sekunden zuvor seinen letzten Psychotrick ausgepackt: Vor dem zweiten Aufschlag des Tschechen ist er bis an die T-Linie vorgerückt, um den Routinier zu irritieren. Das funktioniert, Lendl verschlägt, die Sensation ist nach 4 Stunden und 43 Minuten perfekt: Chang steht nach seinem hart erkämpften 4:6, 4:6, 6:3, 6:3, 6:3-Erfolg im Viertelfinale von Roland Garros.
Dass es so weit kommt, ahnt nach zwei Sätzen allerdings noch keiner der Zuschauer am Bois de Boulogne. Favorit Lendl, Weltranglisten-Erster und dreimaliger Sieger auf der roten Asche in Paris, hat gegen den US-Amerikaner Chang alles im Griff. Doch der Sohn taiwanesischer Einwanderer gibt nicht auf, schnappt sich den dritten Durchgang − und bringt Lendl mit seiner unorthodoxen Spielweise zunehmend aus dem Konzept: Speziell Changs langsame „Mondbälle“ entnerven den Tschechen, der nach einem verschlagenen Return brüllt: „Der Platz ist absurd!“
Obwohl Chang von Krämpfen geplagt wird, irgendwann kaum mehr laufen kann und wegen einer unerlaubten Trinkpause verwarnt wird, gleicht er nach Sätzen aus. „Schauen Sie, wie der über den Platz schleicht, als hätte er Butter in den Knien“, kommentiert Heribert Faßbender in der ARD. Im entscheidenden Durchgang führt Chang mit 4:3, als er Lendl erneut überrascht: Seinen Aufschlag spielt er als einfache Vorhand von unten und gewinnt den Punkt. Das Publikum jubelt. „Im fünften Satz hatte ich mehr Probleme, meinen Aufschlag zu halten, als ihm seinen abzunehmen. Da entschloss ich mich, etwas anderes zu probieren“, erklärte Chang später in einer Dokumentation der „New York Times“.
Lendl findet nicht mehr zu seinem Spiel zurück, der eingangs beschriebene Doppelfehler beendet schließlich die Partie. „Es war das verrückteste Match, das jemals in Paris, wenn nicht in der ganzen Tennisgeschichte gespielt wurde“, sagt Tennis-Legende John McEnroe. Der Wahnsinn ist allerdings noch nicht zu Ende: Chang krönt sich nach weiteren Siegen gegen Ronald Agenor aus Haiti, Andrej Tschesnokow aus der Sowjetunion und den Schweden Stefan Edberg zum jüngsten Grand-Slam-Turniersieger der Tennis-Geschichte – ein Rekord, der bis heute hält. Es wird Changs einziger Triumph bei einem der vier wichtigsten Turniere seines Sports bleiben. „Ich habe mit Ivan nie über die French Open geredet. Und ich habe es auch nicht vor“, sagte Chang später lachend.
In eigener Sache
Aufgrund der Corona-Pandemie wird die Welt aktuell von negativen Nachrichten überschüttet. Wir blicken deshalb in unserer Serie auf Geschichten zum Schmunzeln oder Kuriositäten aus der Welt des Sports.
Alexander Petri