Interview des Monats: „Ich bin keiner, dem es um die eigene Show geht“

03.04.2020 | Stand 23.09.2023, 11:28 Uhr
Oliver Jonas betritt für die deutsche Nationalmannschaft 41 Länderspiele. −Foto: dpa

Er studierte an der Elite-Universität Harvard in den USA, schrieb seine Doktorarbeit über „Die Mechanik menschlicher Zellen“ – und war nebenbei auch noch einer der besten Eishockey-Torhüter Deutschlands: Oliver Jonas, der heute an seiner Alma Mater als Krebsforscher arbeitet, ist trotz der außergewöhnlichen Karriere bescheiden geblieben.

Herr Jonas, die  Welt befindet sich im Kampf gegen das Coronavirus. Wie ist die Lage in Boston, wo Sie mit Ihrer Familie leben? 

Oliver Jonas: Ähnlich wie in Deutschland. Das öffentliche Leben ist größtenteils heruntergefahren. Das Labor ist zu, wir arbeiten alle von zu Hause. Ich bin mit meiner Familie daheim, die Schulen haben schon seit  Wochen geschlossen. Ich versuche, neben der Arbeit  auch ein bisschen Spaß mit den Kindern zu haben.

Wie beurteilen Sie als Mediziner das Gefahrenpotenzial des Virus?

Jonas: Dem Virus wird der Respekt entgegengebracht, der notwendig ist. Anhand der Zahlen kann man  ermessen, wie hoch die Ansteckungsrate und die Sterblichkeit sind. Es scheint deutlich schlimmer zu sein als eine normale Grippewelle.
 
Sie widmen Ihr Berufsleben der Krebsforschung, speziell der besseren Verträglichkeit von Chemotherapien. An welchen Projekten arbeiten Sie?

Jonas: Wir entwickeln Mikro-Implantate, die dazu dienen, genauere Messungen im Körper vornehmen zu können. In der Krebsforschung kann man damit verschiedene Chemotherapien vorab im Tumor messen, um zu sehen, welche Therapie optimale Heilungschancen verspricht. Das ist aber nicht nur auf die Onkologie beschränkt, auch wenn das wohl der wichtigste Anwendungsbereich ist.
 
Schon mit dem Studium in Harvard haben Sie sich einen Traum erfüllt, die Universität gilt als die  renommierteste der Welt. Zu den Absolventen gehören  Barack Obama, Bill Gates und Mark Zuckerberg. Hatten auch Sie als Student berühmte Kommilitonen? 

Jonas: Einige meiner Teamkollegen der Eishockey-Mannschaft haben später erfolgreiche Karrieren in der NHL gemacht. Ein guter Freund, Seth Moulton, vertritt als Politiker der Demokraten den Bundesstaat Massachusetts im Repräsentantenhaus. Und mit der Schauspielerin Natalie Portman habe ich gemeinsam im Seminar gesessen. Sie war die Freundin meines Mitbewohners (lacht).

Wird an einer Elite-Universität genauso gefeiert wie an einer „normalen“ Hochschule?

Jonas: Ich glaube schon. Aber vielleicht nicht ganz so häufig (lacht).

War es für Sie immer klar, dass Sie nach der Eishockey-Karriere nach Harvard zurückkehren?

Jonas: Ich will nicht behaupten, dass wir das von Anfang an gewusst hätten. Aber der grobe Plan sah schon so aus, ja.

 Ihr Onkel Helmut de Raaf, eine  deutsche Eishockey-Torwartlegende, schickte Sie schon als Teenager nach Nordamerika, damit Sie dort unter professionellen Bedingungen trainieren können.  Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Jonas:  Ich war 15,  zunächst wollte ich nur für ein Jahr als Austauschschüler rübergehen. Daraus sind drei Jahre geworden, und dann bin ich zum Studium dageblieben. Ich habe gleich in der ersten Woche auf der High School meine Frau kennengelernt (lacht). So hat sich alles ergeben. Es war eine fantastische Erfahrung. Obwohl einige Dinge schon sehr anders waren als in Deutschland. In mancherlei Hinsicht sogar ein Schock.

Was hat Sie geschockt?

Jonas: Als ich vielleicht drei Wochen da war, hat ein Mitschüler, dessen Eltern nicht da waren, eine Party bei sich veranstaltet. Das Mindestalter, um Alkohol zu trinken, liegt bei 21 Jahren, wir waren wie gesagt 15. Die Party endete damit, dass die Polizei uns alle im Streifenwagen mitgenommen hat. Am nächsten Tag gab’s in der Schule eine Vollversammlung mit Belehrungen und Vorwürfen. Es wurde sehr, sehr ernst genommen. Im Nachhinein kann man drüber lachen, aber damals habe ich gemerkt, dass gewisse Dinge anders gehandhabt werden (lacht).

2001 holten Sie die Eisbären Berlin in die Deutsche Eishockey-Liga (DEL). Manch einer hatte Ihnen auch eine Karriere in Nordamerika zugetraut. Warum fiel die Wahl auf Deutschland?

Jonas: Das hatte sich kurzfristig ergeben. Ich stand bei den Manchester Monarchs unter Vertrag, dem Farmteam der Los Angeles Kings, die wie die Eisbären  zur Anschutz-Gruppe gehören. In Berlin waren beide Torhüter ausgefallen, und so wurde ich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, auszuhelfen. Mich hat das sehr gefreut, weil ich zurück nach Deutschland kommen und Spielpraxis auf hohem Niveau sammeln konnte. Meine Frau und ich sind sofort nach Berlin geflogen, gleich am nächsten Tag war mein Debüt. Sportlich lief es sehr gut, und weil sich der zweite Torwart Klaus Merk längerfristig verletzt hatte, wurden aus den  geplanten paar Wochen  acht Jahre in der DEL.

Bei den Eisbären teilten Sie sich die Aufgabe im Tor zunächst mit Richard Shulmistra, dann mit Rich Parent. Nach der verlorenen Finalserie gegen die Frankfurt Lions waren Sie in der Saison 2004/05  endlich die unumstrittene Nummer eins – bis Ihnen Trainer Pierre Pagé und Manager Peter John Lee für die Play-offs  NHL-Goalie Olaf Kölzig vor die Nase setzten.

Jonas: Wir hatten eine Top-Mannschaft und spielten eine super Saison. Als im Februar klar war, dass durch den Lock-out in der NHL die komplette Saison ausfallen würde, haben sich viele DEL-Klubs noch mit prominenten Spielern verstärkt. In Berlin waren das drei,  Olaf war einer davon. Er war ein netter Typ, wir haben uns sehr gut verstanden. Ich konnte von ihm im Training und im Spiel viel lernen. Sportlich war es zunächst einige Wochen lang frustrierend, nicht spielen zu können. Aber am Ende ist ja doch noch alles gut ausgegangen.

Kölzig verletzte sich, ab dem zweiten Halbfinalspiel gegen den starken ERC Ingolstadt mit den NHL-Profis Marco Sturm, Andy McDonald, Aaron Ward und Jamie Langenbrunner rückten Sie wieder ins Tor – und die Eisbären verloren kein Spiel mehr. Wie groß war die Genugtuung?

Jonas: (lacht) Ich hatte gar keine Zeit, darüber nachzudenken. Es ging direkt rein ins kalte Wasser. Ingolstadt hatte eine tolle Mannschaft, sie waren zu dem Zeitpunkt vielleicht sogar der Geheimfavorit auf die Meisterschaft. Die Spiele standen  alle auf des Messers Schneide. Die Serie hätte auch andersrum ausgehen können,  dann hätte Ingolstadt vielleicht den Titel geholt. So war es für uns eine Riesensache, die erste DEL-Meisterschaft mit den Eisbären zu gewinnen.

Trotzdem verließen Sie den Klub und wechselten zu den Kölner Haien. Dort – und auch im Tor der Nationalmannschaft – machte Ihnen allerdings der junge Thomas Greiss zunehmend den Platz streitig. Wie sehr haben Sie damit gehadert?

Jonas: Einerseits hadert man schon ein bisschen mit sich selbst, andererseits gehört das zum Sport. Ich habe nie gedacht, dass mir der Platz im Tor gehört. Man wächst mit ständigem Konkurrenzkampf auf,  der Bessere spielt. In der ersten Saison haben Thomas und ich uns die Spiele ziemlich genau geteilt, in den Play-offs hat er gespielt. Das war nicht unverdient. Er hat in den Jahren danach ja in der NHL bestätigt, dass er ein super Torwart ist. Ich freue mich immer,  welch tolle Karriere er gemacht hat.

2006 verpassten Sie knapp den Sprung in den Kader des Nationalteams für Olympia in Turin. Kölzig und Greiss waren dabei. Ist das  ein wenig die Tragik Ihrer Karriere, dass Ihnen diese beiden die Show gestohlen haben?

Jonas: Olympia wäre schon toll gewesen. Aber ehrlich gesagt: Ich bin keiner, dem es um die eigene Show geht oder der gern im Mittelpunkt steht. Ich habe in meiner Karriere viele tolle Dinge erlebt –  und manche eben nicht. Das ist bei jedem Sportler so, dass man Höhen und Tiefen hat. Ich bin extrem dankbar dafür, dass ich all diese Erfahrungen –  auch die negativen – gemacht habe. Sonst hätte ich nach dem ersten Jahr in Berlin schon aufhören müssen, weil es bis dahin nur positiv gelaufen war (lacht).

Die letzten beiden Jahre Ihrer Karriere hüteten Sie das Tor des  DEL-Aufsteigers Grizzly Adams Wolfsburg.

Jonas: Eine gute Station. Dort konnte  ich meine Leistung bringen, so gut es mir möglich war. In jüngeren Jahren ist man als Torwart  mental noch nicht in der Lage, diese Leistung konstant abzurufen. Auch was die Kameradschaft anbelangt, hatten wir eine tolle Mannschaft. Da hat es jeden Tag Spaß gemacht, ins Training zu fahren. Sportlich haben wir 2009  den Pokal gewonnen und die Play-offs erreicht. Wir schlugen Augsburg in den Pre-Play-offs und sind dann leider gegen Hannover im Viertelfinale knapp ausgeschieden. Für den Verein war es zu dem Zeitpunkt ein Erfolg, so weit zu kommen. Das war ein positiver Ausklang meiner Karriere.

Schon vor den Play-offs 2009 hatten Sie Ihr Karriereende nach der Saison bekanntgegeben – mit 29 Jahren. Danach spielten Sie Ihre vielleicht stärkste K.-o.-Runde überhaupt. Haben Sie Ihre Entscheidung mal bereut?

Jonas: Der Gedanke kam mir schon, aber nicht ernsthaft. Ich habe das Zusammensein mit den Jungs in der Kabine vermisst, das auf jeden Fall. Aber am Tag nach dem Saisonende war ich schon wieder im Labor und habe an meiner Doktorarbeit weitergeschrieben. Es hat sehr geholfen, schon die nächste Aufgabe zu haben. So konnte ich gar nicht in ein Loch fallen.

 An Ihrer Doktorarbeit hatten Sie schon während Ihrer  Eishockey-Karriere gearbeitet. Wie anstrengend war es, beides unter einen Hut zu bringen?

Jonas: An vielen Tagen war es hart. Vormittags hatte ich Training,  nachmittags habe ich  im Labor versucht, so viel zu machen wie ich konnte. Am Wochenende war ich ja meistens unterwegs. Ich habe den Sommer genutzt, um mich auf die Doktorarbeit zu konzentrieren. Nach dem Eishockey brauchte  ich noch ein Jahr, um die Arbeit fertigzustellen.
 
Ihre ehemaligen Teamkollegen, unter anderem Tim Regan, der  Co-Trainer des ERC Ingolstadt, bezeichnen Sie  als ruhigen, hochintelligenten und witzigen  Zeitgenossen. Björn Barta meinte, dass Sie sich vermutlich manchmal „innerlich über den Kabinenhumor lustig gemacht“ hätten. Mussten Sie sich als angehender Doktor  auch den einen oder anderen Spruch anhören?

Jonas: (lacht) Vielleicht, aber dann gab’s auch direkt ’nen Spruch zurück. Ich glaube, dass ich das nie habe raushängen lassen. Ich habe mich immer wie einer der Jungs gefühlt. Für mich waren das getrennte Welten. In Bezug auf Kameradschaft und Mentalität habe ich mich beim Eishockey immer wohler gefühlt als im Labor.
 
Spielt Eishockey noch eine Rolle in Ihrem Leben?

Jonas: Ja, ich freue mich jeden Sonntagmorgen auf das Spielen mit meiner Hobbymannschaft. Zwei meiner Kinder spielen auch Eishockey, beide im Tor. Da helfe ich als Assistenz- und Torwarttrainer ein bisschen aus – das macht mehr Spaß als ich früher gedacht hätte. Ansonsten verfolge ich ab und zu noch die Ergebnisse der DEL und regelmäßig auch NHL-Spiele.

Die Fragen stellte Alexander Petri.

 

Zur Person

Name: Oliver Jonas.

Geburtstag: 14. Mai 1979 in Neuss.

Beruf: Doktor der Biophysik, Assistenzprofessor im Fachbereich Radiologie.

Spitzname: „Titan“ (zu Wolfsburger Zeiten in Anlehnung an Fußball-Torwart Oliver Kahn).

Größte Erfolge: Deutscher Meister 2005, vier WM-Teilnahmen.

Gut zu wissen: Jonas’ Schwester Isabel war auch Eishockey-Nationalspielerin.

Was er sagt: „Mit sechs habe ich ein Spiel der Kölner Haie gesehen. Damals stand mein Onkel im Tor. Ich wollte so werden wie er.“ (Jonas über seinen Onkel Helmut de Raaf).

Was man so hört: „Er ist ausgeglichen, gewissenhaft, vernünftig. Damit ist er eher ungewöhnlich. Sonst haben Torhüter einen Knall.“ (Hans Zach, Jonas’ ehemaliger Trainer in Köln).

Alexander Petri