"Ich führe das perfekte Sportlerleben"

Timo Boll im Interview

08.02.2019 | Stand 02.12.2020, 14:40 Uhr
  −Foto: Chen Yichen

Seit zwei Jahrzehnten ist er Europas dominierender Tischtennisspieler, war dreimal Weltranglisten-Erster und ist auch mit 37 Jahren einer der wenigen, der die Top-Stars aus China schlagen kann. In Asien wird Timo Boll deshalb vergöttert, während er in Deutschland nahezu unbehelligt leben kann. Vor dem Karriereende hat er höllische Angst.

Herr Boll, Sie sind seit 21 Jahren Profisportler. Steht man da morgens noch ohne Schmerzen auf?

Timo Boll: Es gibt tatsächlich Tage, an denen ich keine Schmerzen habe (lacht). Aber die werden natürlich seltener. 21 Jahre auf absolut höchstem Level zu spielen, ist schon zehrend für den Körper. Aber es macht immer noch Spaß, und das ist das Wichtigste.

Um erfolgreich in den Tag zu starten, brauchen Sie dann erst mal einen richtig guten Espresso. Sie haben sogar eine Barista-Ausbildung.

Boll: Ja, das stimmt. Bis zum Alter von 25 habe ich überhaupt keinen Kaffee getrunken, mittlerweile bin ich da sogar ein wenig perfektionistisch. Wo ich auch bin in der Welt, suche ich mir gerne die besten Cafés der Stadt, versuche dort wenigstens kurz einzukehren und unterhalte mich dann auch mit den Baristas. Auf Reisen habe ich meist meine eigene Ausrüstung dabei, ein Filtersystem, eine Handmühle und natürlich ein paar gute Bohnen.

Das hört sich nach ganz bewusstem Genuss an. Gibt es andere Dinge, die Sie sich - bei aller notwendigen Disziplin - hin und wieder gönnen?

Boll: Ich esse auch gerne, so ist das nicht (lacht), Peking-Ente zum Beispiel. Aber da ist natürlich Disziplin gefragt. Das Kampfgewicht muss einfach stimmen. Jedes Kilo zu viel macht einen langsamer und belastet die Gelenke. Bei mir läuft das immer in Phasen ab. Ich bin nicht wie ein Hund, der sein Leben lang sein Körpergewicht plus oder minus ein bis zwei Kilo hält. Entsprechend setze ich mich immer wieder selbst auf Diät. Besonders vor Großveranstaltungen kann ich dann sehr diszipliniert sein.

Im Vorjahr haben Sie Ihren 18. EM-Titel geholt. Ein unangefochtener Rekord. Eine olympische Einzelmedaille fehlt Ihnen aber noch. Ist es sportlicher Ehrgeiz, der Sie auch mit 37 immer noch fast täglich in die Trainingshalle gehen lässt?

Boll: Ich würde diese Medaille schon noch gerne erreichen, aber das ist nicht der Grund, weshalb ich mich noch rumplage. Es ist doch eher der grundsätzliche Spaß am Sport und an dem Spiel.

Wenn Sie besondere Einzelsiege beschreiben, sprechen Sie meist von einem Rausch, in den Sie sich gespielt haben - wenn Sie die Aktionen Ihrer Gegner besonders gut vorausahnen konnten, das Gefühl hatten, auf jeden Schlag Ihres Gegners eine Antwort zu haben. Ist das der Kick, den Sie immer wieder suchen?

Boll: Ja, das ist wohl das Schönste an meinem Sport. Vorausahnen zu können, was der Gegner vorhat und darauf eine entsprechende Antwort zu haben, macht letztlich auch den Unterschied in unserem Sport aus. Technisch gesehen hat die Nummer 250 der Welt einen genauso guten Topspin wie ich. Wenn der weiß, wohin der Ball kommt, haut auch der mir die Kugel um die Ohren. Die Kunst ist, von der Konzentration her so tief drin zu sein, dass du vielleicht auch drei oder sogar vier Bälle vorausdenkst. Wenn das dann aufgeht, ist das sehr erfüllend.

Es gibt im Tischtennis prominente Vorreiter: Jan-Ove Waldner war 39, Jörgen Persson 42 und Vladimir Samsonov 40, als sie jeweils noch ein olympisches Halbfinale gespielt haben. Wie sehr streben Sie für 2020 die noch fehlende Einzelmedaille an?

Boll: Erst mal hoffe ich, dass ich mich für Tokio qualifiziere. Tischtennis wird gerade in Japan von großer Euphorie begleitet, das wird sicher eine tolle Veranstaltung. Und natürlich will ich da auch gut spielen.

Wird das international Ihr letzter großer Wettkampf?

Boll: Das kann sein. Ich weiß aber nicht, ob ich dann direkt aus der Nationalmannschaft aussteige. Ich muss da einfach kurzfristiger denken und entscheiden. Klar ist, dass ich bei meinem Verein Borussia Düsseldorf noch einen Vertrag bis 2022 habe, den ich natürlich erfüllen will.

Beim Blick auf Ihre Karriere fällt auf, dass Sie im Alter von 21, 29 und zuletzt im Jahr 2018 mit 37 Jahren Weltranglisten-Erster waren. Erinnern Sie sich noch, was Ihnen das in den jeweiligen Momenten bedeutet hat?

Boll: Das erste Mal war natürlich etwas Besonderes. Dass ich plötzlich einen Zähler vor Ma Lin stand, hat mich vor allem deshalb überrascht, weil ich die Chinesen eigentlich immer für einen Tick stärker gehalten habe. Im vergangenen Jahr war es besonders, weil ich solch eine Platzierung nach meiner Knie-OP 2015 schon abgeschrieben hatte. Dann aber kam die Reform der Weltrangliste, ich hatte ein super Jahr, sodass es tatsächlich doch noch einmal geklappt hat.

Fiel es Ihnen eigentlich schwer, nach dem ersten Mal mit gleichem Ehrgeiz weiterzutrainieren?

Boll: Nein, ich habe noch nie Probleme gehabt, mich zu motivieren. Das hat für mich auch etwas mit Anstand zu tun. Ich habe immer Zuschauer, die bezahlen Geld und wollen Timo Boll so gut wie möglich sehen. Also gebe ich mein Bestes, das ist schon immer mein Anspruch.

Wie würde ein Vergleich zwischen dem 21-jährigen und dem 37-jährigen Timo Boll heute enden?

Boll: Auch wenn ich in körperlicher Hinsicht nicht mehr so flexibel und schnellkräftig bin, glaube ich doch, dass ich heute gewinnen würde (lacht). Technisch und taktisch habe ich mich inzwischen einfach nahezu perfektioniert.

Sind Sie akribischer geworden? Nach manchen Spielen sprechen Sie Ihre Analysen sofort ins Handy.

Boll: Ja, oder ich schreibe mir die Sachen sofort auf. Man muss ständig an sich arbeiten, sonst wird man nie das Top-Level erreichen.

Wie steht es um Ihre Nervosität vor den Spielen?

Boll: Früher gab es schon Spiele, die ich mit zitternden Händen verloren habe. Dann habe ich Yoga für mich entdeckt. Unter anderem über die Atmung bin ich inzwischen sehr gut in der Lage, mich auch zwischen den Ballwechseln relativ schnell immer wieder in die Ausgangslage zu bringen. So finde ich meine Mitte und kann mich auf das Wesentliche konzentrieren.

Durch Ihre Erfolge sind Sie in Deutschland zum "Mr. Tischtennis" geworden. Mit ganz unterschiedlichen Folgen: Mal werden Sie, wie in Rio, zum Fahnenträger der Olympiamannschaft gewählt, mal sieht man Sie im Fernsehen mit einer Bratpfanne gegen Hobbyspieler antreten. Wie nervig sind solche TV-Auftritte?

Boll: Ich war nie der Typ Alleinunterhalter. Gerade zu Beginn meiner Karriere ist es mir sehr schwergefallen, mich oder meine Sportart in der Öffentlichkeit zu verkaufen. Manches würde ich so auch nie mehr machen - zum Beispiel in einer Show Tischtennis-Bälle in den Mund nehmen. Aber wir sind auch Entertainer und leben von unserem Sport. Damals musste man froh sein über die Gelegenheit, dort auftreten zu können. Und dann hab' ich den Spaß eben mitgemacht.

Bei Ihren fünf Olympia-Teilnahmen haben Sie unter anderem die Weltklassesportler Roger Federer und Dirk Nowitzki kennengelernt. Sie beschreiben beide als bodenständig und bescheiden. Sind das Eigenschaften, die Ihnen auch im privaten Bereich besonders wichtig sind?

Boll: Auf jeden Fall. Mir selbst ist es auch wichtig, wie ich rüberkomme. Ich will sicher nicht als Proll wahrgenommen werden (lacht). Roger Federer oder Dirk Nowitzki sind Menschen, die aufgrund ihrer überragenden Erfolge kein 08/15-Leben mehr führen können. Trotzdem treffen sie weiterhin ihre alten Freunde, versuchen im Umgang mit den Menschen immer den Anstand zu wahren und freundlich zu bleiben. Das schätze ich sehr.

Ihre Bodenständigkeit hilft Ihnen sicher auch, wenn Sie bei Ihren Terminen in China wie ein Superstar angehimmelt werden.

Boll: Ich sage immer: Ich führe eigentlich das perfekte Sportler-leben. Zum einen kann ich mich hier in Deutschland relativ frei bewegen und ein ziemlich normales Leben führen. Zugleich erlebe ich in Asien, wie es ist, ein Star zu sein. Erkennt mich dort jemand auf der Straße, ruft er gleich laut, sodass sofort mehrere Menschen um mich herumstehen. Mir wird das schnell unangenehm, sodass ich dort die meiste Zeit im Hotel oder in der Halle verbringe. In Deutschland reicht es, wenn ich mich im Café mit dem Gesicht zur Wand hinsetze, dann kann ich meist in Ruhe meinen Espresso genießen.

In China bekamen Sie schon Schildkröte, Krokodil und Ameisen vorgesetzt.

Boll: In den Trainingszentren isst man in der Sportlerkantine das, was einem vorgesetzt wird. Schildkröte wird dir da groß angepriesen: Es sei gut für die Potenz und würde dir Kraft geben, heißt es. Ich habe es tatsächlich auch mal probiert, bin aber ehrlich gesagt kein Freund davon. Die Ameisen zu essen, habe ich mich gar nicht getraut.

Regeländerungen haben Sie auch im Tischtennis immer wieder dazu gezwungen, sich anzupassen. Vom Frischklebeverbot über die Verkürzung der Sätze bis zur Vergrößerung der Bälle, die inzwischen auch noch aus Plastik sind. Hat das dem Sport geholfen?

Boll: Die Verkürzung der Sätze war eine gute Entscheidung, die Spannungsmomente haben klar zugenommen. Alle anderen Änderungen hatten aus meiner Sicht keinen großen Effekt. Beim Frischklebeverbot musste man aber natürlich etwas machen. Wenn japanische Sportler die lösungsmittelhaltigen Kleber inhalieren und dann ins Koma fallen, war es einfach Zeit zu handeln.

Sie haben schon mehrfach gesagt, dass Sie höllische Angst vor dem Karriereende haben. Bekommen Sie denn gar nicht genug?

Boll: (lacht) Es gibt sicher Spieler, die durch ihre Karriere und den ständigen Druck sehr belastet waren. Ich genieße die Zeit dagegen. Noch beim World-Cup vergangenen Oktober in Paris, als wir vor einer großen Kulisse und bei Wahnsinnsstimmung gespielt haben, ist mir mitten im Spiel der Gedanke gekommen: Mensch, das musst du jetzt aufsaugen. Wer weiß, ob ich das noch mal erlebe.

Wird Ihr körperlicher Zustand somit das Karriereende bestimmen?

Boll: Ja. Wenn es nur noch weh tut, wenn ich nur noch verliere, leidet nicht nur das sportliche Level, sondern auch der Spaß. Dann muss man sich fragen: Hat das noch Sinn? Als ich die Dokumentation über Boris Becker gesehen habe, dachte ich nur: Wow, wenn du dich so zerstörst, das ist schon hart. Wenn du nicht mal mit deinem Kind spazieren gehen kannst? So weit will ich es sicher nicht treiben.

Gibt es etwas, worauf Sie sich nach Ihrer aktiven Zeit besonders freuen? Zum Beispiel das Reisen?

Boll: Naja, ich reise ja eigentlich ständig. Es mag kurios klingen, aber ich war im vergangenen Sommer durch meinen Bandscheibenvorfall zum ersten Mal komplett zu Hause. Zehn Wochen lang. Ich kenne den deutschen Sommer ja kaum (lacht), weil ich sonst immer im Trainingslager oder in der chinesischen Liga unterwegs war. Deshalb freue ich mich auf meine Frau und meine Tochter. Wir werden dann wohl machen, worauf meine Familie Lust hat, die hat schließlich lange genug zurückstecken müssen.

Das Gespräch führte
Norbert Roth.

 Geburtstag: 8. März 1981 in ErbachGrößter Erfolg: Neben dem dritten Platz bei der WM 2011 hat Boll 18 EM-Titel geholt, davon sieben im Einzel. Rekord.Markenzeichen: Boll besitzt eine sehr gute Antizipation und den variabelsten Spin auf Vor- und Rückhand.Gut zu wissen: 2003 wurde Boll erstmals Weltranglisten-Erster und stand seitdem immer unter den Top 7.Was er sagt: „Um im Restaurant eine Peking-Ente zu bestellen, reicht mein Chinesisch.“Was man so hört: „Weil er mich hat spielen sehen.“ (Bundestrainer Jörg Roßkopf erklärt, warum Timo Boll mit Tischtennis angefangen hat.TERMINAm 23. Februar ist Timo Boll in München zu sehen. Ab 18 Uhr spielt er im Audi-Dome mit Rekordmeister Borussia Düsseldorf in der Bundesliga gegen die TTF Ochsenhausen - dem aktuellen Tabellenzweiten. Karten gibt es unter: www.tt-in-muenchen.reservix.de