EM-Partie in vollem Stadion
Die Maske fällt: Erfahrungsbericht aus Budapest

16.06.2021 | Stand 23.09.2023, 19:13 Uhr
Budapester Must-Have: Ohne gelbes Bändchen, das als Nachweis für Impfung oder negativen Test gilt, erhalten Fans keinen Zutritt zum Stadion. Am Bahnhof Keleti begrüßt ein überdimensionaler Spielball die Besucher, vor der Arena behalten freiwillige Helfer vom Tennis-Schiedsrichterstuhl aus den Überblick. Nach der Partie verabschiedeten die ungarischen Anhänger ihre Mannschaft mit viel Applaus. −Foto: Petri/Rehberger

Die EM-Partie Ungarn gegen Portugal am Dienstag war das erste Fußballspiel in Europa seit Beginn der Corona-Pandemie, das in einem voll besetzten Stadion stattfand. 55662 Zuschauer feierten fast gänzlich ohne Schutz eine stimmungsvolle Party - ein mulmiges Gefühl bleibt. Ein Erfahrungsbericht aus Budapest.

Achtzig Minuten sind absolviert, als Szabolcs Schön in seinem zweiten Länderspiel die schmucke Ferenc-Puskas-Arena endgültig in einen kollektiven Freudentaumel stürzt. Auf der Tribüne hinter dem Tor liegt sich eine Gruppe biertrinkender junger Männer in roten Trikots in den Armen, rechts dahinter klatscht ein Pärchen miteinander ab, und selbst die lässigen Typen auf der linken Seite, die bislang kaum eine Miene verzogen haben, lassen von ihren Sonnenblumenkernen ab und applaudieren stehend. Die "Magyarorszag"- und "We are, we are, Hun-ga-ria"-Schlachtrufe donnern noch eine Spur lauter über die rot getünchten Ränge, die Ohren klingeln und die Aerosole tanzen Csardas.

Der tapfere Außenseiter Ungarn wähnt sich durch Schöns Treffer gegen den amtierenden Europameister mit 1:0 in Führung, was für eine Geschichte, die ideenlosen Portugiesen um den bis dahin blassen Superstar Cristiano Ronaldo scheinen besiegt und das Coronavirus, das sich nicht an "Rendeszet" (Security) und "Közremüködo" (Stewards) vorbei trauen soll, sowieso. Ein ungarisches Sommermärchen nimmt seinen Anfang - so sieht es zumindest aus.

Die Bilder der vollbesetzten Arena, in der Menschen nebeneinander und miteinander auf Tuchfühlung feiern, werden in diesem Moment von den Fernsehkameras um die Welt geschickt. Wie schon die irritierenden Szenen eines Fan-Zugs ein paar Stunden davor. Eine rot-weiße Wand zog vom Budapester Heldenplatz mit der EM-Fanmeile hinüber zum Puskas-Stadion. Auch hier Gesänge, kein Abstand, keine Maske, wie in einer längst vergessenen Welt vor unserer Zeit.

Ein ausländischer Besucher steht mit mulmigem Gefühl vor diesem Phänomen. Der Trip nach Budapest glich bis dahin bereits einer Abenteuerreise, die schon Tage vorher begonnen hatte. Ungarn hatte sich in der Corona-Pandemie zuletzt komplett abgeschottet. Ausländer durften grundsätzlich nicht ins Land, nur in Einzelfällen und nur nach Anmeldung. Ein kompliziertes Formular an die "Rendörseg" (Polizei) musste stets den Weg ebnen. Und bei der EM? Die unterschiedlichsten Informationen schwirrten vor dem Turnierstart durchs Netz. Ja, kurzfristig Sonderstatus für Euro-Fans. Keine Quarantäne. Aber doch ein Corona-Test? Oder mussten es gar zwei sein? Nur der zeitaufwendige PCR-Test, Ergebnis auf Englisch und nicht älter als 72 Stunden - und natürlich für die lange Anreise rechtzeitig in der Tasche. Zusammen mit dem digitalen Ticket an der Grenze präsentiert, sollten sie den Zugang zum Fußball-Fest ermöglichen.

Wirklich? Drei Anrufe beim ungarischen Konsulat in München kommen nicht einmal in die Warteschleife. Da wird die Zugreise gen Osten am Spieltag fast selbst zur Zitterpartie. In Hegyeshalom ist um kurz nach 12 Uhr der Showdown unausweichlich. Grenzübertritt bei High Noon. Der Bahnsteig scheint leer. Dann eilen drei Rendörseg-Beamte durch die Abteile, vorbei an den ausländischen Gästen, die ihre Unterlagen bereithalten, aber kaum eines Blickes gewürdigt werden. Der Zug rollt los, der Weg ist frei. Noch zwei Stunden bis Budapest-Keleti. "Sie fahren auch zum Spiel?", fragt ein Vater, der mit seiner Tochter in Györ einsteigt, freundlich ein junges Paar aus Österreich. "Ja", lautet die Antwort. "Aber Sie sind nicht für Portugal?" "Nein, auf keinen Fall!" Der Ungar ist zufrieden.

Der nostalgische Keleti-Bahnhof direkt am gut 500 Millionen Euro teuren EM-Stadion bleibt aber auch nur eine Zwischenstation. Ein gelbes Bändchen am Handgelenk ist das nächste verpflichtende Accessoire; mit dem negativen Corona-Test an vier Stellen in der Stadt erhältlich. Bei fast 60000 Zuschauern bilden sich vor dem geistigen Auge unweigerlich gigantische Warteschlangen. Die Zeit drängt. Für den Stadioneintritt hat die Uefa jedem Ticketinhaber ein halbstündiges Fenster eingeräumt, um mögliche Ansammlungen zu entzerren. Nur ein netter Gedanke, wie sich zeigen wird. Zunächst aber auch hier die Überraschung: Viele freundliche Volunteers weisen den Weg zu einer Zeltstadt mit genauso vielen Freiwilligen an der Kontrollstelle für das gelbe "Covid-Wristband". Ein flüchtiger Blick auf das Corona-Dokument. "Köszönöm!", der Dank auf beiden Seiten, dann ist das Band überreicht.

Ein Helikopter kreist über der Arena, Dosenbier ist angesichts der Hitze das Getränk der Wahl, an Ständen verkaufen Frauen Knabberzeug. Vor "Gate VI" des Stadions bildet sich dann doch der Pulk, der von Volunteers auf Tennis-Schiedsrichterstühlen per Megafon orchestriert wird. Zwischendurch wird auch mal ein Fangesang angestimmt.

Enikö Papai wedelt an einem Zugangstor mit einer Scheckkarte über alle Smartphones, die der jungen Frau präsentiert werden. Die Online-Eintrittskarte ist nun endgültig aktiviert, Papiertickets gibt es bei diesem Turnier nicht. Noch eine schnelle Einlasskontrolle am Metallscanner und einen automatisierten Körpertemperaturcheck, an dem die Besucher auch außen vorbeigehen können, dann ist das Drehkreuz an der monumentalen Arena erreicht.

Obwohl es die Uefa als Turnierveranstalter den Fans ausdrücklich in ihrer Checkliste aufgetragen hat: FFP2-Masken sucht man vergeblich. "Muss man die drinnen nicht tragen?" Die Frage an den mehrsprachigen Volunteer liefert ein verstecktes Grinsen hinter seinem Mundschutz. Er antwortet: "Nein, nur wir" - und weist dann auf den Ticketscanner mit dem anziehenden roten Licht. Der letzte Schritt. Das Handy darunter. Alles springt auf grün.

Wir sind drin im Fan-Traum aus Sichtbeton, Teil eines von vielen Anhängern gelobten und vergessenen Landes. Ein Fußball-Spiel anscheinend ohne Grenzen, sogar Bier mit Alkohol wird ausgeschenkt. Die roten Warnschilder auf der Getränkekarte mit dem Hinweis auf die Maskenpflicht scheren niemanden. Alles ist wie früher. Als wäre Corona nie gewesen. Ungarn macht es möglich. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist schon zweimal geimpft. Der offizielle aktuelle Inzidenzwert: 9,3.

Schöns Treffer in der 80. Spielminute jedoch zählt dann doch nicht: Abseits. Stattdessen schlagen die Portugiesen in den Schlussminuten noch dreimal zu - zweimal Ronaldo - und damit ordentlich auf die Stimmung. Vielleicht hat das ungarische Sommermärchen doch kein Happy End. Am Samstag kommt Weltmeister Frankreich.

DK


Alexander Petri, Christian Rehberger