„Als Bundestrainer habe ich 15 Söhne“: Wasserball-Legende Hagen Stamm im Interview des Monats

29.05.2020 | Stand 23.09.2023, 12:10 Uhr

−Foto: privat

"Lichtgestalt", "Übervater" oder "Mr. Wasserball": Hagen Stamm hat seinen Sport als Spieler, Klubpräsident und Nationalcoach geprägt wie kein Zweiter. Der 59-Jährige, der im Hauptberuf eine Fahrradfirma leitet, erzählt von feierfreudigen Sportlern, Wasserball als Familienangelegenheit – und wie er mit einem „Gulasch“ im Gesicht Europameister wurde.

Herr Stamm, Sie haben immer eine Badehose dabei. Wann haben Sie die zuletzt gebraucht?

Hagen Stamm: Auf Lehrgängen mit der Nationalmannschaft. Da gehe ich ins Wasser, nachdem die Spieler trainiert haben. Durch die Bäderschließungen wegen der Corona-Krise hatte die Badehose zuletzt aber wenig Sinn. Aber jetzt gehen die Bäder wieder auf, da wird sie vielleicht wieder der Nutzung zugeführt. 

Spielen  Sie dann  noch Wasserball oder ziehen Sie lieber als Schwimmer Ihre Bahnen? 

Stamm: Im Jahr 2000 sind wir  noch Weltmeister im Senioren-Wasserball geworden, aber danach habe ich die schwerste Verletzung meiner Karriere erlitten. Ein Tränenkanal-Riss, nachdem der Finger eines Torwarts in meinem Auge landete. Da bin ich nach der Operation mit einer Plastik-Kanüle im Auge rumgelaufen. Seitdem muss ich mir das nicht mehr antun. Ich schwimme aber sehr gerne, weil man da sehr viel nachdenken kann. Dabei kommen mir die besten Ideen.

Sie haben mal gesagt: „Mein Vater war Ringer, meine Mutter Schwimmerin. Da war klar: Ich werde Wasserballer.“ 

Stamm: Sie haben mich im Alter von zwei Jahren bei den Wasserfreunden in Spandau angemeldet. Da blieb mir wenig andere Wahl, als irgendwann diesen  Sport zu machen.

Wasserball in Deutschland ist eine Familienangelegenheit. Sie sind die Galionsfigur dieser Sportart, Präsident des Abonnement-Meisters  Spandau und Bundestrainer. Ihr noch aktiver Sohn Marko und Ihr Schwiegersohn Marc Politze sind zwei der prägendsten Spieler der vergangenen Jahre. Warum haben Sie und Ihre Familie das Herz an den Wasserball verloren?

Stamm: Meine Frau ist auch noch die verantwortliche Cheftrainerin Schwimmen im Verein. Dementsprechend musste der Sohn  immer mit ins Schwimmbad. Wie sein Vater ist er über das Schwimmen zum Wasserball gekommen. Wahrscheinlich, weil es im Team dann doch mehr Spaß macht, als immer nur Bahnen zu ziehen. Warum meine Tochter sich einen Wasserball-Nationalspieler als Mann genommen  hat, müsste ein Psychologe beantworten. Es könnte sein, dass sich Töchter ihre Männer nach dem Vorbild des Vaters aussuchen. Hab’ ich noch nicht drüber nachgedacht. Aber ist natürlich völlig okay für mich.

Wasserballer gelten als zähe Sportler, aber auch als feierfreudige Stimmungskanonen – das war schon zu Ihrer aktiven Zeit so. Wie lautet Ihre beste Party-Geschichte von den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles?

Stamm: Teamsportler generell können gut feiern. Aber man darf sich nicht täuschen: Soweit ich denken kann, haben Wasserballer bis zur letzten Minute eines Turniers gekämpft, um das beste Ergebnis rauszuholen. Sie trainieren viel härter als  andere Mannschaftssportarten. Wenn  so ein Turnier vorbei ist und man  einen Erfolg errungen hat, darf man auch feiern. Und wir waren ja nicht alleine: Die legendären Geschichten von 1984 beruhen auf einer mehrtägigen Party von Hockeyspielern, Handballern und Wasserballern. Alle drei hatten Medaillen gewonnen. 

Der Legende nach übernahmen die Wasserballer auf dem Rückflug die Getränkeversorgung.

Stamm: Die Getränke waren alle, wenn ich mich richtig entsinne. Die Lufthansa hatte nicht genug an Bord. Ich kann mich an einen Troubadour erinnern – oder eher Troubadix, um es mit Asterix zu sagen –, der auf diesem Flug zwölf Stunden lang deutsche Volkslieder angestimmt und alle zum Mitsingen animiert hat. Ein Hammerwerfer, ohne Namen zu nennen.  

Eine Kissenschlacht soll es auch noch gegeben haben...

Stamm: Ja, zur Freude aller gab es bei der Landung eine. Aber auch das verlief sportartenübergreifend.

In den 80er-Jahren gehörten sowohl die Wasserfreunde als auch  die   Nationalmannschaft zu den besten Teams  der Welt und sammelten Titel um Titel. War das die Goldene Generation des deutschen Wasserballs?

Stamm: Wir hatten in Spandau eine Konzentration der fünf oder sechs besten Spieler Deutschlands. Das war Glück, dass da ein Jahrgang zusammengewachsen ist. Verstärkt von einigen Importen aus Deutschland und dem Mexikaner Armando Fernandez. Eine Weltauswahl hätte damals durchaus nur aus Spandauern bestehen können. Da versuchen uns im Übrigen gerade einige große Nationen zu kopieren: dass der Stamm eines  Nationalteams auch im Verein zusammenspielt und von Top-Spielern aus anderen Klubs ergänzt wird. 

Sie hatten während Ihrer aktiven Zeit  ein Angebot aus Italien, wo Sie erstklassig  verdient hätten. Warum sind Sie Berlin  immer treu geblieben?

Stamm: Das war eine kuriose Geschichte. Ich gehörezu den Dinosauriern, die immer noch mit derselben Frau verheiratet sind, was heute ja nicht mehr unbedingt normal ist. Das liegt daran, dass sie die Beste ist, die ich kriegen konnte. Wir haben den Italienern aus der Nähe von Rom damals immer neue Forderungen gestellt. Zu der sechsstelligen Summe, die zur damaligen Zeit Wahnsinn war, ein Haus am Wasser, ein Auto. Wir waren erschrocken, weil sie jedes Mal Ja sagten. Am Ende haben wir aber trotzdem abgesagt, weil wir unsere Zukunft in Berlin sahen. Ich habe dann den Fahrradladen meiner Schwiegereltern übernommen und inzwischen zu einem recht großen Unternehmen ausgebaut. Die Entscheidung war also hundertprozentig richtig. Ich kann nur jedem raten, bodenständig zu bleiben. Wenn man wie ich damals  im besten Verein der Welt spielt, muss man nicht dem Lockruf des Geldes folgen. 

1989 wurden Sie mit der deutschen Auswahl in Bonn zum zweiten Mal Europameister, nach einem dramatischen Finale gegen Jugoslawien. Für Sie persönlich aber  eine schmerzhafte Angelegenheit.

Stamm: In drei Spielen hintereinander haben die Gegner mir die Lippe aufgeschlagen. Unser Teamarzt, ein guter Freund von mir, sagte am Ende: „Ich weiß nicht, wo der Faden noch halten soll.“ 3000 Zuschauer skandierten  meinen Namen, da bin ich  zur Verlängerung noch mal reingesprungen wie in Trance. Vielleicht habe ich  sogar meinen Anteil am Sieg, weil die Jugoslawen mich doppelt decken mussten und Rainer Osselmann der entscheidende Treffer gelang. Es war ja dramatisch durch die Sudden-Death-Regel: Zuvor hatten die Jugoslawen einen Ball an die Latte gesetzt. Während ich meine Teamkollegen dann in der Dusche feiern hörte, lag ich wieder unter der Nadel. Da war meine Euphorie etwas eingeschränkt.

Das ZDF übertrug damals das Endspiel live. Heute undenkbar. 

Stamm: Mit kurzen Pausen, ja. Ich werde nie vergessen, dass der Kommentator damals sagte: „Oh, Hagen Stamm ist jetzt ganz raus! Hat er konditionelle Schwächen?“ Weil er nicht erkannt hatte, dass meine Lippe wie ein Gulasch aussah. Es war einer der schönsten Momente, gerade im eigenen Land.

Bei der WM 2019 in Südkorea spielte  Ihr Sohn Marko  mit einem Bänderriss  und war dennoch  – ähnlich wie Sie 30 Jahre zuvor  mit verletzter Oberlippe  –  der wichtigste Mann. Sind das diese  „Heldengeschichten“, über die der Wasserball Bekanntheit generieren muss?

Stamm: Komischerweise habe ich genau an diese Bonn-Geschichte  gedacht, als das passierte. Manchmal ist man gefährlicher, wenn man der angeschossene Tiger ist. Marko hat in Südkorea eines seiner besten Turniere  gespielt – und das, obwohl er sich an Land gar nicht bewegen konnte. Im Wasser wurde sein Bein fixiert, trotzdem war es ein großes Handicap. Aber er hat damit die Mannschaft mitgerissen. Da war ich sehr stolz. Dazu kam, dass das gesamte Team die Weltspitze geärgert und ein tolles Turnier gespielt hat. Wenn beides zusammenkommt, bekommt auch Wasserball Platz in der Berichterstattung.

Ihr  ehemaliger Trainer Alfred Balen, der den  Spandauer  Europapokal-Triumph  1986  mit seinem üblichen Sprung ins Becken feierte und danach tragisch an einem Gehirnschlag starb, prägte den Satz: „Das Geheimnis einer erfolgreichen Mannschaft ist, eine Familie zu werden.“ Haben Sie diese Maxime von ihm übernommen, als Sie 2000  selber Bundestrainer wurden?

Stamm: Balen hat Familie vorgelebt. Wir sind sogar so bescheuert gewesen, als Team zusammen in den Urlaub zu fahren. Sein Nachfolger Uwe Gaßmann ist mit 37 Jahren an Krebs gestorben. Das Familiäre haben beide vorgelebt. Mit Nicolae Firoiu hatte ich noch einen Bundestrainer mit anderen Qualitäten. Diese drei haben mich geprägt. Als Bundestrainer versuche ich, diesen familiären Umgang vorzuleben. Da  habe ich  15 Söhne. 

Sie sind Bundestrainer mit einer halben Stelle, weil der Etat des Deutschen Schwimm-Verbandes (DSV)  nicht mehr hergibt. Ist es nicht frustrierend, sich unter diesen Bedingungen mit den Vollprofis aus Italien,  Ungarn, Serbien oder Kroatien  zu messen, die finanziell und medial in ganz anderen Welten leben?

Stamm: Keiner der Vollprofis ist mit mehr Engagement dabei als ich, nur weil er besser bezahlt wird. Ich habe mich mit Thomas Kurschilgen, dem Direktor Leistungssport im DSV, auf diese halbe Stelle geeinigt. Das ist völlig in Ordnung für mich als Unternehmer. Keiner muss mit der Klingelbörse rumgehen und für mich sammeln. 

Sie feiern in wenigen Tagen ihren 60. Geburtstag, Olympia 2020 in Tokio sollte der krönende Abschluss Ihrer Karriere als Bundestrainer werden. Wegen der Coronavirus-Pandemie sind die Spiele  auf 2021 verschoben. Wie geht es mit Ihnen persönlich und den deutschen Wasserballern weiter?

Stamm: Mein Geburtstag wird nicht verschoben, aber eine Feier gibt es nicht. Und nachdem ich gehört habe, dass ich mit 60 zur Corona-Risikogruppe gehöre, bin ich mir nicht sicher, ob ich den Geburtstag überhaupt will. Die Olympia-Quali ist im Februar 2021, hoffentlich  können wir die kleine Chance nutzen.

Warum ist eigentlich Bayern eine Wasserball-Diaspora?

Stamm: Bevor die Spandauer Erfolgsserie begann, war Würzburg das Nonplusultra im deutschen Wasserball. Die spielen  noch in der 2. Liga, genauso wie Weiden. Auch Nürnberg ist ein toller Standort mit guter Nachwuchsarbeit. In München gibt es zarte Ansätze in der Regionalliga. Es gibt schon Wasserball und auch Historie. Vielleicht müsste man mal ein verrücktes Projekt in München starten. Das ist wie Frankfurt eine Stadt, wo der Wasserball hingehört.

Wie kann man Wasserball aus Ihrer Sicht populärer machen?

Stamm: Wasserball muss  für jeden Schüler zum Pflichtprogramm gehören. Davon  profitiert etwa Hockey, dass der Sport oft im Schulunterricht integriert ist. Es wäre auch kein Problem, Wasserball-Tage  in Freibädern einzurichten. Wenn Kinder mit einem Ball den ganzen Tag aufs Tor werfen, kommen sie gar nicht mehr aus dem Wasser raus. 

Zur Person

Name: Hagen Stamm

Geburtstag: 12. Juni 1960 in Berlin

Beruf: Fahrrad-Großhändler, Bundestrainer der Wasserball-Nationalmannschaft

Spitzname:  „Weißer Hai“

Größter Erfolg: Europameister 1981 und 1989, WM-Bronze 1982, Olympia-Bronze 1984, 14-mal Deutscher Meister, viermal Europapokalsieger

Gut zu wissen: Stamm gewann als Torschützenkönig eines Turniers auf Kuba einen ausgestopften Katzenhai als Trophäe

Was er sagt: „Wasserball verbessert den Charakter.“

Was man so hört: „Unsere jungen Leute haben einen Riesen-Respekt vor Hagen. Für sie ist er der Beckenbauer des Wasserballs.“ (Ex-Nationalspieler Thomas Schertwitis)

Alexander Petri