Kroatiens verlorener Sohn
Unfall nahe Ingolstadt: Vor genau 30 Jahren starb Weltklassebasketballer Drazen Petrovic

07.06.2023 | Stand 14.09.2023, 23:41 Uhr

Am 7. Juni 1993 starb der kroatische Superstar bei einem Verkehrsunfall zwischen Denkendorf und Ingolstadt. Er schlief und war nicht angeschnallt. Foto: Kastl

An diesem 7. Juni vor genau 30 Jahren starb der Weltklassebasketballer Drazen Petrovic bei einem Verkehrsunfall auf der Autobahn in der Nähe von Ingolstadt. Der kroatische Volksheld gilt als einer der besten Spieler aller Zeiten und ebnete den Weg für europäische Athleten in der nordamerikanischen Profiliga NBA. Durch den Tod des Ausnahmekönners konnte auch eine langjährige Freundschaft, die der Jugoslawienkrieg zerstört hatte, nicht mehr gekittet werden.

Wer sich nach einem Unfall am 7. Juni 1993 erkundigte, der erntete in Ingolstadt erst einmal fragende Blicke. So wie bei Robert Brenner. Das liegt daran, dass der Polizist sehr viele Unfälle auf der Autobahn gesehen hat. Brenner kannte nach eineinhalb Jahrzehnten bei der Ingolstädter Verkehrspolizei jeden Quadratmeter Autobahn. Der 7. Juni war bei ihm, der später viele Jahre als Chef von Pfaffenhofens Polizeiinspektion fungierte, aber doch hängengeblieben. Den 7. Juni 1993 umspannte eine ganze Serie mit sechs tödlichen Unfällen auf der BAB 9, wie es im Dienstdeutsch heißt.

An jenem 7. des Monats in wenigen Stunden zwei hintereinander. „Das gibt es doch gar nicht!“, dachte sich Brenner, als er, der Einsatzleiter, nach einer tödlichen Karambolage bei Lenting wieder aufs Motorrad steigen musste und am Stau vorbei zurück in Richtung Anschlussstelle Denkendorf düste. Ein Wagen war dort nach einem heftigen Regenschauer frontal gegen einen quer stehenden Sattelzug geprallt. „Ein Käfer!“, will sich Brenner erinnern. Das hat sich bei ihm mit dem Tag im Gedächtnis eingebrannt – weil er sich gewundert habe: „So eine berühmte Person und dann so ein Auto. Der müsste doch Geld haben ohne Ende.“

Erinnerungen an den Unfall

Als Brenner viele Jahre später im Gespräch mit unserer Zeitung auf Videoaufnahmen blickt, sieht er einen weinroten Golf neben dem Lkw. Die Erinnerung hatte ihm ein Schnippchen geschlagen. Die Akten zu der Karambolage sind vorschriftsmäßig nach zehn Jahren vernichtet worden. In unseren Breiten geriet die Kollision in Vergessenheit. In Kroatien ganz anders. Die junge Nation verlor zwischen Denkendorf und Ingolstadt einen Nationalhelden. Davon hatten Polizist Brenner und alle anderen, die am 7. Juni vor dem zerstörten Kleinwagen standen, noch keine Ahnung. Bald sprach sich herum: Der junge Mann, der neben zwei Frauen – sie überlebten schwer verletzt – auf dem Beifahrersitz gesessen hatte und um dessen Leben die Rettungskräfte auf der A 9 erfolglos kämpften, hieß Drazen Petrovic; der damals beste Basketballspieler Europas, Superstar der nordamerikanischen Profiliga NBA.

Welche Stellung dieser erst 28-Jährige in der Welt hatte, sollte Kajetan Kastl ebenfalls bald merken. Kastl, ein freier Fotograf aus Ingolstadt, war als Reporter auf der Autobahn, hatte Bilder geschossen und auch gefilmt. „Ein ganz normaler Unfall“, so war auch bei ihm der anfängliche Eindruck. Doch dann meldeten sich Nachrichtenagenturen zuhauf, die Bilder haben wollten. Kastl, damals 23 Jahre alt, bekommt zu hören: „Sie haben einen Treffer gelandet.“ Seine Videoaufnahmen laufen in allen Nachrichtensendungen zur besten Sendezeit.

Petrovic – Jugoslawiens liebster Sohn

Wer das alles nach drei Jahrzehnten noch greifbar machen will, muss sich auf die Reise in die 1980er Jahre machen, als der Balkan noch ein geeintes Jugoslawien unter einer kommunistischen Flagge war. Eine ganze Generation junger Basketballer eroberte den Sport im Sturm. Toni Kukoc, Dino Radja oder Vlade Divac sollten später großartige Profikarrieren in Übersee hinlegen. Doch Europa staunte damals über ein Talent aus einer kleinen Küstenstadt an der Adria, das einmal 112 Punkte in einem Spiel erzielte. „Das Wunder von Sibenik“, so wurde das Ausnahmetalent genannt, war auch im Vergleich mit europäischen Top-Teams regelmäßig für 40, 50, 60 Zähler gut. Schnell adelte ihn das Land als „Mozart des Basketballs“. Drazen Petrovic, so sein Name, galt schon mit knapp über 20 als Jugoslawiens liebster Sohn. Er führte die Nationalmannschaft zu Olympiasilber 1988, EM-Sieg 1989 und dem WM-Titel 1990.

Die Jugoslawen waren der damals der Grund, warum die gedemütigten USA kurz darauf ihr legendäres Dream Team um Legende Michael Jordan zu den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona schickten. Petrovic und Co. galten da schon selbst als legendär. Doch als sie unbeschwert von Sieg zu Sieg eilten, zerfiel die Welt um sie herum in Trümmer. Der Kommunismus starb. Die Berliner Mauer fiel. Auch Jugoslawien zersplitterte in seine Teilrepubliken. Was aber zunächst an dem Team, das sich längst zu einer Familie entwickelt hatte, vorüberging.

„Wir waren Basketballer, keine Politiker“, sagt Vlade Divac, 16 Jahre Profi in der NBA und Mitglied der Hall of Fame, dem eine entscheidende Rolle in allem zukommt. Der Serbe spricht dies in der preisverdächtigen TV-Dokumentation „Once Brothers“ (Wir waren Brüder) aus, bei der er für den US-Sender ESPN seine eigene Lebensgeschichte nachzeichnet und verstehen will: „Warum die großartige Freundschaft, die ich gerade mit Drazen hatte, und unser Leben über Nacht verschwanden.“ Die Brüder im Nationalteam fragten nicht nach der Herkunft. Kroate, Serbe, Bosnier. Egal. In der Mannschaft. Nicht in dem Vielvölkerstaat, der in Auflösung begriffen war. Denn als nach dem WM-Sieg der Jugoslawen 1990 ein Fan mit einer kroatischen Flagge aufs Spielfeld rennt, reißt Divac sie ihm weg. Er habe mit allen unter einer jugoslawischen Flagge feiern wollen, erklärt er später. Es hört ihm keiner mehr zu. Aus dem vermeintlich kleinen Zwischenfall war eine Staatsaffäre geworden.

Der Vorabend des Bürgerkriegs zwischen Kroaten und Serben hatte nun auch die Nationalbasketballer eingeholt. Serbe, Kroate – plötzlich doch wichtig. Der glühende Patriot Petrovic wendete sich als Kroate von seinem Freund aus Serbien ab. Dabei hatten sie kurz davor zusammen den Sprung über den Großen Teich gewagt, ins Gelobte Land für Basketballer: die USA. Divac und Petrovic machten in der NBA den Weg frei für ausländische Profis, die folgen sollten. Der Würzburger Dirk Nowitzki zum Beispiel. Oder zuletzt die slowenische Sensation Luka Doncic, der als Teenager am ehesten auf Petrovics Spuren wandelte.

„Mozart“ Petrovic nahm es mit allen auf

Auch in jenen Pioniertagen Ende der 1980er, Anfang der 1990er liegt großes Tragikpotenzial verborgen. Während Divac bei seinem Team Los Angeles Lakers durchstartet, kommt Petrovics Karriere erstmals überhaupt ins Stottern. Er findet sich bei den Portland Trailblazers auf der Bank wieder. Eine völlig neue Erfahrung für den erfolgsverwöhnten „Mozart“, der einst gegnerische Teams im Alleingang erledigt hatte. Seine Frustration wächst und wächst. Divac, so erzählt er, hört davon jeden Tag in stundenlangen Telefongesprächen. Die beiden sind so eng wie wohl nie. Erst als das Wunderkind aus Sibenik im Januar 1991 zu den New Jersey Nets wechseln darf, sieht die Welt endlich, was Europa längst wusste: Petrovics Talent ist scheinbar grenzenlos. Er gehört zu den besten Basketballern, die jemals einen Korb anvisierten.

„Petro“, wie sie ihn in New Jersey rufen, steigt auch in den USA zum bejubelten Star auf und beendet die Saison 1992/1993 mit 22,3 Punkten pro Spiel im Schnitt – „in der NBA der 90er, wo es gerade drei, vier, fünf Europäer gab“, würdigt ihn Andrea Trinchieri, Headcoach der Basketballer des FC Bayern. Petrovic sei „der Steph Curry der 90er“, vergleicht der Erfolgstrainer ihn mit dem mutmaßlich besten Schützen in der NBA-Geschichte und mehrfachen Champion von den Golden State Warriors.

Den Durchbruch beflügeln auch die Olympischen Spiele in Barcelona. Petrovics Kroaten unterliegen erst im Finale gegen das übermächtige Dream Team. Divac muss mit dem verbannten Restjugoslawien zusehen, denn der Balkankonflikt tobte. Freunde, Verwandte, Nachbarn stehen sich an der Front gegenüber. Auch zwischen den Basketballbrüdern hat sie sich gebildet. „Eine Freundschaft aufzubauen dauert Jahre“, sagt Divac, „sie zu beenden nur Sekunden. Das ist uns passiert.“

Der Serbe berichtet das in der fesselnden Dokumentation, als er auf dem Weg zu Petrovics Grab in Zagreb ist. Nach fast 20 Jahren setzt er, der Staatsfeind früherer Tage, damals wieder Fuß auf kroatischen Boden; besucht die Mutter Biserka und Drazens Bruder Alexander, um sich auszusprechen. „Ich habe immer geglaubt, der Tag würde kommen, an dem Drazen und ich uns hinsetzen und reden. Aber er kam nie“, sagt Divac in die Kamera.

Stattdessen folgte der 7. Juni 1993, der in sich auch noch einmal eine immense Tragik beinhaltet. Das kroatische Nationalteam hatte am Vorabend in Breslau ein Qualifikationsspiel zur Basketball-EM in Deutschland bestritten. Auf dem Heimweg nach Zagreb stieg Petrovic beim Zwischenstopp in Frankfurt überraschend aus dem Flieger aus. „Wir sehen uns morgen“, soll er den Kollegen gesagt haben. Seine Freundin aus München, selbst Zweitligabasketballerin, holte ihn in ihrem Auto, einem weinroten Golf ab; in Begleitung ihrer Freundin, die mit kam, um für die Hinfahrt Gesellschaft zu leisten. Während Petrovic auf dem Beifahrersitz schläft, „unangeschnallt“, wie sich Polizist Brenner auch nach der langen Zeit noch erinnern konnte, geschah bei Denkendorf das Unvorstellbare. Die junge Frau fährt nach Aquaplaning auf den Lkw auf. Petrovic stirbt an Ort und Stelle.

Auch der Name der Fahrerin sollte um die Welt gehen: Klara Szalantzy, seit 2001 mit Oliver Bierhoff, dem langjährigen Manager der deutschen Fußball-Nationalelf, verheiratet. Erst er half ihr nach Jahren aus der schweren Krise, die sie nach dem Unfall durchlebte. Öffentlich geäußert hat sie sich nie.

100000 Menschen bei der Beerdigung

Zwei Tage nach seinem Tod holte die Familie den verlorenen Sohn Drazen vom Ingolstädter Nordfriedhof heim. 100000 Menschen kamen mitten in den Bürgerkriegstagen zu seiner Beerdigung in Zagreb. Bischof Marko Culej sagte vor der Menschenmenge: „Es gibt schon tausende frische Gräber, viele Mütter in Schwarz. Ist das nicht genug?“ Monate später bekam die schwer trauernde Biserka Petrovic am Grab von einem Kroaten zu hören: „Seien Sie nicht traurig. Sie haben ihn zur Welt gebracht, aber er gehört längst uns allen!“ Drazen Petrovic wurde nur 28 Jahre alt.

DK



HINWEIS

Dieser Artikel erschien in seiner Ursprungsform erstmals zum 20-jährigen Todestag von Drazen Petrovic in unserer Zeitung.