Saisonstart beim Klassiker in Monte Carlo
Rallye-Ass Neuville: „Natürlich wollen wir um den Fahrer-Titel kämpfen“

19.01.2023 | Stand 17.09.2023, 5:09 Uhr

Bayerisches Team: Hyundai Motorsport ist im unterfränkischen Alzenau beheimatet. Seit 2014 fährt der Ostbelgier Thierry Neuville für die Südkoreaner. Fotos: Imago Images

Thierry Neuville ist der einzige deutsche Muttersprachler in der Rallye-WM und jagt seinen großen Traum vom Fahrertitel. Bei der legendären Rallye Monte Carlo geht jetzt die Saison für den Hyundai-Piloten los.

Herr Neuville, wie fühlt man sich, wenn man sich bei einem Crash mit dem Auto ein Dutzend Mal überschlägt, wie es Ihnen beim Weltmeisterschafts-Lauf 2019 in Chile ergangen ist? (siehe Video unten)

Thierry Neuville: Das sind Momente, da rutscht einem das Herz schon in die Hose. Man weiß ja nie genau, wo es hingeht. Man wartet dann auf den großen Einschlag, wo alles stehenbleibt und man die ganzen Kräfte fühlt. Wenn man so quer abrollt, wie wir das in Chile gemacht haben, ist das oft noch die beste Variante. Weil dann nicht diese riesigen Kräfte auf einen einwirken, wie wenn man gegen einen Baum fährt, wo man in einer halben Sekunde von 100 auf 0 abgebremst wird.

Was nimmt ein Rennfahrer, der auch danach fast immer am Limit sein muss, aus so einem Erlebnis mit? Sie und Ihr Co-Pilot Nicolas Gilsoul wurden zum Glück damals nur leichter verletzt.
Neuville: Das Wichtigste ist es, so schnell wie möglich wieder ins Auto zu klettern und weiterzumachen. Man muss sich allerdings schon langsam ans Limit herantasten. Das ist klar, dass man nicht von Beginn an Vollgas fährt. Der Respekt vor den Risiken, die wir tagtäglich eingehen, ist aber immer da. Die Angst fährt aber nicht mit. Wenn die mal mitfahren sollte, wird es Zeit, die Karriere zu beenden.

Seit 2020 unterstützen Sie bei jeder Rallye in den verschiedenen Gastländern ein soziales Projekt vor Ort mit größeren Geldbeträgen. Was hat Sie dazu bewogen?
Neuville: Ich fahre jetzt schon länger in der Rallye-Weltmeisterschaft, konnte meinen Traum zum Beruf verwirklichen. Wir werden gut bezahlt, für das, was wir machen. Irgendwann kam das Gefühl, was zurückgeben zu wollen. Ausschlaggebend war dann ein Gespräch mit meiner Mutter, die mich ermuntert hat. Seitdem läuft die Aktion. Es ist jedes Mal ein Vergnügen, wenn man sieht, was mit den Geldern gemacht wird und wie man die Leute glücklich macht. Wie viel Geld fließt, hängt ja von meinem Resultat bei der Rallye ab. Das ist ein besonderer Anreiz für mich.

Sie stammen aus der unmittelbaren Nähe der Rennstrecke von Spa-Franchorchamps. Wird man als Ostbelgier nicht automatisch Rundstreckenfahrer?
Neuville: (lacht) Das könnte man meinen. Die Strecke ist nur 15 Kilometer von meiner Heimatgemeinde St. Vith entfernt. Aber ich war irgendwie immer Rallye-Fan. Das hat mich mehr begeistert. Bei Rallyes gab es immer mehr Action, da wurde mehr geboten für die Zuschauer. Obwohl ich immer bei den 24-Stunden-Rennen und der Formel 1 in Spa oder am Nürburgring als Kind mit der Familie dabei gewesen bin. Mein großer Traum war aber immer Rallye-Fahrer.

Mit einem Kredit gelingt Neuville der Start seiner Rallye-Karriere



Um ein weiteres Klischee abzufragen: Wären Sie als Belgier auch auf dem Rennrad gut aufgehoben (gewesen)?
Neuville: (lacht) Ich weiß es nicht. Da hätte mir aber das Interesse gefehlt.

Aber nicht der Trainingsfleiß, oder?
Neuville: Der wäre schon da gewesen. Aber bei mir war immer der Motorsport die Nummer eins. Früher Fußball. Da hätte ich vielleicht sogar eine Karriere machen können. Talent hatte ich, aber das Interesse lag bald woanders.

Sie nahmen irgendwann einen Kredit von 10000 Euro für den Kauf Ihres ersten Rallye-Autos auf. Die beste Investition Ihres Lebens?
Neuville: Ja, eigentlich schon. Den Opel Corsa A bin ich zwar nur kurz bei drei Rallyes gefahren. Den habe ich dann wieder veräußert, um einen Teil der Kosten für das Ausscheidungsrennen des belgischen Verbandes für junge Talente zu finanzieren. Das hat mich dann richtig vorangebracht. Also hat die Investition doch gedient.

Was reizt Sie am meisten, über Schotter-, Asphalt- und Schneepisten zu heizen?
Neuville: Das hat sich über die Jahre schon verändert. Damals war es rein der Spaß. Dann kam bald das Gefühl, dass aus dem Spaß auch eine Karriere entstehen könnte. Nach der vielen harten Arbeit machen einem inzwischen nur noch die Resultate und guten Zeiten bei den Wertungsprüfungen wirklich Spaß. Die Herausforderung ist es, besser zu sein als die anderen.




Wie sehr vermissen Sie die Deutschland-Rallye im Mosel-Gebiet, die bis 2019 im Kalender der Weltmeisterschaft stand?

Neuville: Sehr! Das war immer meine Heimat-Rallye, nur 80 Kilometer von meinem Heimatort entfernt. Halb Belgien kam rüber, um uns anzufeuern. Die Rallye an sich war auch eine große Herausforderung. Erst in den engen Weinbergen, dann auf dem Truppenübungsplatz über die Panzerplatten zu düsen.

Was fehlt Ihnen mehr: die Fans, die Arena Panzerplatte oder die berüchtigten Hinkelsteine?
Neuville: Alles zusammen. Das war auch immer eine Sommer-Rallye, meistens schönes Wetter, mit super Wertungsprüfungen, die Stimmung war immer grandios.

Sie sind deutscher Muttersprachler, haben aber auch einige weitere Sprachen drauf, sind ein Botschafter des modernen Europas – so könnte man sagen. Sie wären doch der perfekte Sieger der neuen multinationalen Rallye Central Europe nächstes Jahr in Niederbayern, Tschechien und Österreich. Wie fänden Sie das?
Neuville: (lacht) Gut! Das sollte auch eine Rallye sein, die uns liegt. Auf Asphalt sind wir immer schnell unterwegs. Aber es ist ein ganz neues Event. Wir wissen gar nicht, was auf uns zukommt. Außer dass wir in drei Ländern fahren und das Zentrum in Passau sein wird. Ich bin auch noch nie in Süddeutschland gefahren.

Ihre WM-Saison startet in dieser Woche – und wie immer in Monte Carlo. Wo rangiert der Klassiker in den französischen Seealpen in Ihrer Favoritenliste?
Neuville: Die ist ganz klar ein Highlight. Schon allein, weil es der Start in eine neue Saison ist, in die wir wieder viele Hoffnungen setzen. Aber es ist auch ein riesiges Event, weil immer so viele Zuschauer anreisen. Die Monte ist ein Abenteuer für alle Beteiligten. Die Bedingungen sind sehr abwechslungsreich. Auch wenn wir heuer wahrscheinlich weniger Schnee haben werden, weil die Strecken näher an der Küste liegen. Aber es könnte zumindest viel Eis auf den Straßen in den Bergen geben. Das sind dann schon schwere Bedingungen. Aber ich freue mich jedes Jahr drauf.

Der Audi Quattro ist für Neuville das Auto mit dem besten Sound





Zu Beginn der abgelaufenen Saison haben Sie gefremdelt mit der neuen Hybrid-Ära in der Rallye-Weltmeisterschaft. Wie sieht es ein Jahr später aus?

Neuville: Es hat dann im Verlauf der Saison schon viele Antworten auf die Fragen gegeben, die wir Fahrer hatten. Trotz allem hat es Spaß gemacht, das neue Auto zu fahren. Aber es hat sich auch gezeigt, dass die Generation davor einfach der Knaller war. Alle Teams haben während der Saison gut entwickelt, die Autos sind inzwischen schnell und machen auch Spaß. Man kann jetzt darüber streiten, ob das Hybrid zur Effizienz beiträgt oder nicht. Aber technisch gesehen ist es ein schönes und neues Feature, in das man sich einarbeiten musste. Das hat uns dann schon Spaß gemacht.

Für Sie persönlich hätte die Saison noch ein bisschen länger dauern dürfen. Zwei der letzten vier Läufe haben Sie gewonnen, inklusive des WM-Finales in Japan.
Neuville: Ein paar weitere Läufe wären gut gewesen (lacht). Der Beginn war katastrophal, mit vielen Ausfällen. Die zweite Saisonhälfte lief dann gut. Das Auto war standhaft. Der Speed war auch meistens da. Sofort kamen die guten Resultate.

Nach Ihren fünf Vize-Weltmeister-Titeln: Wie groß ist Ihre Sehnsucht nach dem großen Coup?
Neuville: Das Ziel ist immer das gleiche. Das Einzige, was uns fehlt, ist der Fahrer-Titel. Wir werden wieder alles geben. Aber man hat gesehen, dass es selbst Ott Tänak (Fahrer-Weltmeister 2019 und letztjähriger Vize-Weltmeister, d. Red.) schwer fiel, das Ziel mit Hyundai zu erreichen. Das hat auch hoffentlich die Augen bei einigen Personen im Team geöffnet. Und ich hoffe, dass wir vor allem aus der letzten Saison gelernt haben. Da hatte es einige Probleme gegeben und lief auch intern organisatorisch nicht alles rund. Ich wünsche mir, dass wie besser gewappnet sind, alle an einem Strang ziehen und das dann vielleicht der entscheidende Unterschied zu den vergangenen Jahren ist. Natürlich wollen wir um den Fahrer-Titel kämpfen.

Wie anstrengend ist es eigentlich, nach jeder Wertungsprüfung aus dem Auto heraus einen Kommentar in die TV-Kamera abgeben zu müssen?
Neuville: Wenn man eine gute Wertungsprüfung hatte, spürt man das auch, dann fällt das schon leichter. Bei einer schlechten ist es frustrierender, ist die Stimmung natürlich nicht so gut. Aber mit den Jahren lernt man dazu. Auch dass eine schlechte Wertungsprüfung nicht das Ende sein muss. Man muss immer weiterkämpfen und pushen. Die Rallye ist erst zu Ende, wenn man über die Ziellinie fährt.



Die Rallye Dakar ist gerade zu Ende gegangen, für viele ein Mythos. Wäre die Wüste irgendwann was für Sie? Sie entwickeln im Familienbetrieb schon Offroad-Buggys.
Neuville: Klar! Die steht irgendwann auf der Wunschliste. Im Moment liegt der Fokus aber voll auf der Rallye-Weltmeisterschaft. Solange es die noch gibt, mehrere Hersteller wie Hyundai beteiligt sind und wir den Speed haben, versuchen wir da auf jeden Fall dabei zu sein.

Man kann die Dakar ja auch noch mit 50 plus gewinnen...
Neuville: ...genau, das hat Carlos Sainz uns ja schon gezeigt.

Der Ingolstädter Autobauer Audi ist bei der Dakar dabei – und hat auch Ihren Sport in den 1980ern geprägt. Kann man Sie mit einem der Gruppe-B-Monster begeistern? Einem der Quattros?
Neuville: Auf jeden Fall! Das war damals das tollste Auto – auch vom Sound her. Fahrerisch war der Lancia vielleicht auch nicht schlecht. Aber allein schon beim Sound war der Quattro das Beste, was man sich überhaupt denken kann. Gefahren bin ich ihn leider noch nie, würde ich aber gern einmal.


Herr Neuville, abschließend noch zwei bunte Themen: Wie viele Brillenpaare haben Sie inzwischen, die sind ja Ihr Markenzeichen – und welche ist dabei Ihre Lieblingsfarbe?

Neuville: Oh, über die Jahre hat es sehr viele gegeben. Das Modell für die Rallye ist immer das gleiche. Ich habe so drei, vier Paare, die ich im Privaten über das Jahr hinweg wechsle. Bei der Rallye sind es immer die orangefarbenen. Die funktionieren unter dem Helm am besten – und die Farbe passt auch zum Team.

Und abschließend: Wann sehen wir Sie bei der Autoball-WM im deutschen Fernsehen?
Neuville: (lacht) Die habe ich tatsächlich zufällig mitbekommen. Ich habe gesehen, dass Sébastien Ogier (achtmaliger Rallye-Weltmeister, d. Red.) dabei war. Für eine Teilnahme habe ich ehrlich gesagt aktuell keine Pläne. Ich weiß auch nicht, ob man fahrerisch mit Talent so einen Vorteil hat oder nur Glück braucht. Aber lustig fand ich es.

ZUR PERSON



NAME

Thierry Neuville




GEBURTSTAG

16. Juni 1988 in St. Vith/Belgien




BERUF

Rallye-Profi




MARKENZEICHEN

Bunte Brille




GRÖSSTE ERFOLGE

Fünffacher Rallye-Vizeweltmeister (2013, 2016 bis 2019)




GUT ZU WISSEN I

Seinen ersten Podiumsplatz sicherte Neuville bei der Rallye Mexiko 2014, weil er sich ins Ziel rettete, indem er den auslaufenden Kühler mit Corona-Bier aus einer riesigen Flasche nachfüllte.




GUT ZU WISSEN II

Neuville stammt aus dem deutschsprachigen Teil Belgiens. Neben Deutsch als Muttersprache spricht er den regionalen Dialekt, Luxemburgisch, Französisch sowie Englisch – und versteht Flämisch.




WAS ER SAGT

„Es ist nicht gerade einfach – manchmal fallen mir Wörter nicht ein, wenn ich die Sprachen durcheinanderbringe.“