50 Jahre Olympia
„Ich lief rum wie betäubt“

Speerwurf-Olympiasieger Klaus Wolfermann über seinen Sensationssieg bei den Spielen 1972 in München

02.06.2022 | Stand 22.09.2023, 22:37 Uhr

Schrieb am 3. September 1972 Sportgeschichte: Mit einem langen und sehr schnellen Anlauf gepaart mit seiner ausgefeilten Wurftechnik wurde Speerwerfer Klaus Wolfermann bei den Spielen in München Olympiasieger. Foto: dpa

Ingolstadt – Mit nur zwei Zentimetern Vorsprung besiegte Speerwerfer Klaus Wolfermann bei den Spielen 1972 in München überraschend seinen Rivalen Janis Lusis und krönte sich zum Olympiasieger. Zwei Tage später zerschlug das Attentat seine Freude, doch noch heute zählt der 76-Jährige zu den Größten des deutschen Sports.

Herr Wolfermann, Sie bezeichneten sich einst selbst als „kleiner Gstumperter“. Mit Ihren 1,76 Metern hatten Sie mit den üblicherweise groß gewachsenen, mit langen Armen und somit optimalen Hebelverhältnissen ausgestatteten Speerwerfern nicht viel gemein. Und dennoch stehen Sie heute hier als Deutschlands Speerwerfer des Jahrhunderts. Wie hat das funktioniert?

Klaus Wolfermann: Man muss den Gesamtweg sehen. Ich komme aus dem Turnlager, da mein Vater ein guter Turner war, und war für die Beweglichkeit beim Speerwerfen natürlich hervorragend ausgestattet. Aber tatsächlich gibt es heute unter 1,80 Metern keinen gescheiten Speerwerfer. Ich musste mir das als Junior bei einem internationalen Lehrgang in Paris auch anhören, als der Pole Janusz Sidlo, einer der damals weltbesten Speerwerfer, sagte: „Du wirst zwar ein guter Speerwerfer, aber nie ein ganz guter.“ Doch in Finnland gab es einen Speerwerfer, der noch ein paar Zentimeter kleiner war als ich und Weltrekord geworfen hatte. Also sagte ich mir: „Wenn der das mit dem Körperwuchs zusammenbringt, muss ich zumindest schauen, dass ich auch vorwärtskomme.“

Sie waren nicht nur Turner, sondern spielten auch Handball und waren als Fünf-und Zehnkämpfer aktiv. Wie kamen Sie zum Speerwurf?

Wolfermann: Das hatte sich bei mir schon ein bisschen herauskristallisiert. Ich hatte als Handballspieler die Schlagbälle schon über 100 Meter geworfen. Als ich 16 war, drückte man mir bei den Stadtmeisterschaften in meiner Geburtsstadt Altdorf einen Holzspeer in die Hand, so eine finnische Birke, die so geschlackert ist. Da habe ich gleich 45 Meter geworfen. Das war ein weiteres Indiz. Ich dachte mir: „Mensch, da könntest du dich eigentlich mehr für diese Disziplin interessieren.“ Es ging dann sukzessive gut vorwärts. Mit hervorragendem Training wurden die Weiten besser und stabilisierten sich. Dann erschien das Thema so, wie es im Raum steht: Das heißt, auch Kleine haben mal eine große Stunde (lacht).

Die ereignete sich am 3. September 1972. Sie hatten jahrelang mit unglaublicher Disziplin und großem Willen trainiert, warfen zehn Tage vor den Olympischen Spielen erstmals über 90 Meter. Dennoch waren Sie der Außenseiter. Mit welchem Gefühl traten Sie in München an?

Wolfermann: Ich hatte bereits einen Tag vor dem Wettkampf ein gutes Gefühl. In der Qualifikation ging ich als Bester mit 86 Metern raus. Ich fühlte mich nicht nur wohl, sondern sagte mir: „Bis dato stimmt der Weg, alles, was ich investiert hatte. Du kannst ruhig in den Wettkampf gehen – und dann schauen wir mal.“

Der Wettkampf entwickelte eine unvergessliche Dramaturgie, als Sie im fünften Versuch auf Risiko gingen und mit 90,48 Metern die Führung vor dem großen Favoriten und Titelverteidiger Janis Lusis übernahmen. Haben Sie all das noch vor Augen?

Wolfermann: Ich habe den Wettkampf noch komplett, auch gefühlsmäßig, vor Augen. Fast alles hat so geklappt, wie das von meinem Trainer und mir taktisch ausgearbeitet worden war. Der erste Wurf war schon sehr weit, über 86 Meter. Da hatte ich schon eine Medaille in der Tasche. Ich dachte da aber noch nicht dran, Janis Lusis zu schlagen. Dieser Gedanke tauchte erst vor dem fünften Versuch auf, als er mit 89 Metern führte und ich mit 88 Metern nur knapp hinter ihm war. Dann sagte ich mir: „Und jetzt volles Risiko. Anlauf verlängern, schneller, und vorn einfach durchschlagen.“ Das hat alles gestimmt, war gut getimt. Und dann kam der Wurf auf 90,48 Meter.

Allerdings mussten Sie danach noch zittern, denn Lusis hatte noch seinen alles entscheidenden sechsten Versuch.

Wolfermann: Ich hatte natürlich Angst ohne Ende, weil ich wusste, dass Janis Lusis vier Jahre zuvor in Mexiko auch im letzten Versuch gewonnen hatte. Und wenn er in München nicht einen Fehler beim Abwurf gemacht hätte, hätte er im letzten Versuch Weltrekord geworfen. Aber er knickte beim Stemmbein ein, nur ein bisschen, aber das macht viel aus.

Am Ende musste er sich mit nur zwei Zentimetern weniger mit der Silbermedaille begnügen. Sie haben sich damals sogar bei ihm entschuldigt.

Wolfermann: Ja, er war für mich eine Respektperson. Ich hatte immer nur zu ihm aufgeschaut, wie kurz vorm lieben Gott (lacht). Und plötzlich war ich besser als er. Deswegen ging ich hin zu ihm und entschuldigte mich. Er war schon enttäuscht, aber er hat es mit Würde getragen.

Der Jubel im Olympiastadion war unbeschreiblich, das ganze Stadion hatte mit Ihnen gezittert.

Wolfermann: Nachdem das Ergebnis bekannt gegeben worden war, lief ich rum wie betäubt. Ich wusste überhaupt nicht, was los ist. Ich musste es erst aufnehmen, was ich hier gemacht hatte. Das gelang mir erst bei der Siegerehrung, als für mich die Nationalhymne gespielt, die Flagge hochgezogen wurde. Das Schönste war, als im Stadionrund alle meinen Namen schrien: „Wol-fer-mann, Wol-fer-mann.“ Das war gewaltig. Das hat man im Leben mit Sicherheit nur einmal.

Hatte Ihnen die Kulisse extra Energie gegeben für Ihren Wettkampf?

Wolfermann: Ja, das sind Faktoren, die man unbewusst in Anspruch nimmt. Als die Gruppe ins Stadion geführt wurde, wollte ich an erster Stelle rein und schauen, wie das Publikum reagiert. Nachdem die Leute gleich applaudierten, war das die Stabilisation für den Wettkampf. Das hätte allerdings auch nach hinten losgehen können, dass ich lauter Fehlversuche mache.

Die ganze Welt schaute damals nach München, noch heute schwärmen die Leute von den Spielen. Wie haben Sie die Atmosphäre erlebt?

Wolfermann: Es waren definitiv die fröhlichen, heiteren Spiele. In einem solchen Auditorium, mit den Sportstätten mitten in München. Die Menschen wollten nicht nur dabei sein, sondern der Welt zeigen, dass wir auch anders sein können als 1936. Alle Wettkämpfer wurden beklatscht, egal, aus welchem Land sie kamen. Auch der Letzte wurde noch gefeiert. Das ist das Phänomen, das heute noch in den Köpfen sehr vieler Menschen, die das miterlebt haben oder vorm Fernseher saßen, ist.



Zwei Tage nach Ihrem Olympiasieg war es mit dem Feiern allerdings schlagartig vorbei. Wie haben Sie das Attentat auf die israelischen Athleten erlebt?


Wolfermann: Ich habe kaum im olympischen Dorf geschlafen, weil ich dem Rummel ein bisschen aus dem Weg gehen wollte. Um fünf Uhr nachts weckte mich mein Schwiegervater, bei dem ich untergebracht war, und sagte: „Da draußen ist etwas Fürchterliches passiert.“ Ich habe mich sofort auf den Weg gemacht, kam mit meinem Auto selbst mit meiner Athletenakkreditierung aber nicht einfach so rein und wurde von Polizei und Militäreinheiten kontrolliert. Da wusste ich, da ist wirklich etwas ganz Schlimmes geschehen.

Wie gingen die Athletinnen und Athleten im olympischen Dorf damit um?

Wolfermann: Im Deutschen Haus sagten sie uns Medaillengewinner: „Ihr geht keinen Schritt mehr aus diesem Haus ohne Begleitschutz.“ Jeder war apathisch, niemand wusste, was geschieht oder wie es weitergeht. Wir waren alle schockiert. Als die Hubschrauber aus dem Dorf flogen, hatten wir die Hoffnung, dass das relativ gut endet, wenn die Geiseln von Fürstenfeldbruck ausgeflogen werden. Es ist alles anders gekommen, beschämend eigentlich. Die Freude von meinem Sieg wurde dadurch natürlich stark beschnitten.

Es wurde lange diskutiert, ehe die Spiele doch fortgesetzt wurden. Die richtige Entscheidung?

Wolfermann: Der Sport wurde in einer Art und Weise missbraucht, die eine Katastrophe auslöste. Dennoch war ich damals der Meinung, dass sie unbedingt weitermachen sollen. Denn wenn die Spiele zu Ende gewesen wären, würde es heute mit Sicherheit keine Olympischen Spiele mehr geben. Man muss aber immer wieder das Gute an solchen Spielen sehen, diese Zusammenkunft, diese Vereinigung, diese Gemeinschaft.



Im Sommer jähren sich die Spiele in München zum 50. Mal. Sie sind derzeit fast so gefragt wie nach Ihrem Sieg.


Wolfermann: Wir haben im Moment einen gesellschaftlichen Zeitraum, mit den Kriegen, der Pandemie, da wünscht man sich etwas Positives. Deswegen passt das Jubiläum unglaublich gut rein. Und es ist auch schon von der Gesellschaft angenommen worden, diese Spiele zu feiern, zu erinnern. Ob das wie in Ingolstadt die Fackelläufer sind oder die Fußballspiele – jeder hat seine eigene Story und kann dazu beitragen.

Diesen Sommer gibt es mit den European Championships das größte Sportspektakel im Münchner Olympiapark seit den Spielen 1972. Mit Thomas Röhler und Johannes Vetter treten wohl zwei Medaillenkandidaten für Deutschland an. Was erwarten Sie von Ihren Nachfolgern?

Wolfermann: Ich erwarte, dass die Beiden zu der Form finden, die sie in den letzten Jahren gezeigt haben. Vielleicht setzen sie sich ja international durch und wir können ihnen hier in München gratulieren.

DK



Das Interview führte

Julia Pickl.


ZUR PERSON



Klaus Wolfermann
wurde 1972 in München mit 90,48 Metern der erste bundesdeutsche Olympiasieger im Speerwerfen und schrieb als „der kleine Riese mit dem goldenen Arm“ Sportgeschichte. Ein Jahr später stellte er mit 94,08 Metern einen neuen Weltrekord auf. Der Athlet aus Altdorf bei Nürnberg wurde 1972 und 1973 in Deutschland als Sportler des Jahres und 1972 als Sportler Europas ausgezeichnet. 1999 wurde er zu Deutschlands Speerwerfer des Jahrhunderts ernannt. Nach seiner Karriere wurde Wolfermann, der den Beruf des Werkzeugmachers erlernte und nach seinem Studium als Sportlehrer arbeitete, Bremser und Anschieber im Zweier- und Viererbob. Später arbeitete er für Puma und betrieb eine Sportvermarktungsagentur. Heute lebt der 76-Jährige im oberbayerischen Penzberg und engagiert sich seit vielen Jahren mit großer Leidenschaft für soziale Zwecke.

jpi