In Tahiti Boot zu fahren heißt, sich einen Reisetraum zu erfüllen. Nebenbei lernt man an Bord eines klassischen Kanus viel über die Seefahrertradition der Polynesier – und wie diese wiederbelebt wird.
Um zu segeln wie die Ahnen, muss ich zuerst das Balancieren meistern. Über die schmale Spitze des Bugs tapse ich der ausgestreckten Hand von Alexis Moerai entgegen. Galax, wie sich der 50-Jährige vorstellt, paddelt und segelt seit seiner Kindheit durch die Lagunen von Tahiti. Nun zeigt er Touristen, wie man auf dem Holopuni beides elegant verbindet.
Das Segelkanu, Anfang der 1980er-Jahre vom Hawaiianer Nick Beck entwickelt, greift die traditionelle Bauweise der alten Polynesier auf: ein neun Meter langer, schlanker Rumpf, zwei Ausleger zum Stabilisieren, ein Segel. Dank moderner Materialien ist es pfeilschnell und wendig – und der vielleicht vergnüglichste Beitrag zur kulturellen Renaissance Tahitis.
Die Polynesier waren die größten Seefahrer der Geschichte, auf ihren Auslegerkanus besiedelten sie ein riesiges Inselreich zwischen Hawaii, Neuseeland und den Osterinseln. Bis heute ist das Paddeln Nationalsport, aber nur wenige Bewohner Tahitis segeln noch. Mithilfe der Holopunis will Teiva Véronique das ändern.
In der Marina von Papeete, der Hauptstadt Tahitis, gibt der Segelprofi jeden Samstagmorgen Kurse für Kinder. Auf einem Regalbrett stehen die Trophäen des 41-Jährigen, die wichtigste für den Sieg bei der ersten Holopuni-Weltmeisterschaft im Jahr 2019.
Harte Aufschläge, samtgrüne Berge
Touristen zeigt Véronique auf Ausflügen durch die Lagune, wie man das Auslegerkanu segelt. Leider ist der Maestro an diesem Tag verhindert, er tritt bei den Pazifikspielen an. Aber sein Freund vertritt ihn würdig.
Galax rollt das Segel aus, zurrt den schrägen Baum fest, stößt sich vom Kai ab. „Paddeln“, ruft er von hinten. Ein paar Schläge mit dem leichten Holzpaddel, und schon schiebt uns der Wind.
Von nun an bleibt als Beifahrer nur noch, sich das Wasser ins Gesicht spritzen zu lassen und zwischendurch zur Küste und den samtgrünen, scharf geschnittenen Bergen zu blinzeln. Meist aber starre ich geradeaus, zu den Wellen, in die wir rhythmisch eintauchen. Schwall um Schwall ergießt sich über Brust und Gesicht.
An das gelegentliche, harte Aufschlagen gewöhnt man sich schnell. Nur dass der Ausleger hoch in der Luft hängt und wir in Schräglage durch die Lagune hoppeln, beunruhigt ein wenig. Ob er schon mal gekentert sei, rufe ich über die Schulter. „Nein, niemals“, antwortet Galax. Auch nicht, als er einmal in zwei Tagen und Nächten bis zum Atoll Rangiroa gebrettert ist. Klingt so, als dürfte ich mich entspannen.
Galax hat mehr zu tun. Anfangs muss er jede Minute wenden; später, als das Riff weit zurückweicht und sich die Lagune weitet, hält er allein mit dem Paddel den Kurs. Unser Ziel kann er nicht verfehlen: den Pointe Vénus, eine Landzunge an der Nordspitze Tahitis, markiert von einem weißen, sechsstöckigen Leuchtturm.
Traditionen und alte Techniken
Gebaut wurde er 1868, rund hundert Jahre, nachdem James Cook hier für die Wissenschaft beobachtet hatte, wie der Planet Venus als schwarzer Punkt vor der Sonne vorbeizog. Wie viele europäische Entdecker war Cook fasziniert vom Segelkönnen und den Navigationstechniken der Polynesier. Dabei erlebte der Brite die Seefahrerkultur der Polynesier bereits im Niedergang.
Ab dem 15. Jahrhundert nahmen ihre Fernreisen auf See stark ab. Über Jahrhunderte gab es keine hochseetauglichen Kanus mehr, das Wissen darüber ging verloren. Bis am 4. Juni 1976 die „Hōkūleʻa“ im Hafen von Tahiti einlief – ein originalgetreues Doppelrumpfkanu, das Experimentalarchäologen auf Hawaii nachgebaut hatten.
17.000 Menschen feierten ihre Ankunft mit Trommeln, ein Kirchenchor sang eine eigens komponierte Hymne, Tausende stimmten ein. Die Ankunft startete die Rückbesinnung auf polynesische Traditionen.
„Unsere Vorfahren sind alle auf Kanus hierhergekommen“, sagt Matahi Tutavae. „Alles in unserer Kultur ist mit dem Va'a, dem Kanu, verbunden. Es ist eine Schule des Lebens.“ Tutavae, 44, leitete einige Jahre die Organisation „Faʻafaite“, die ein eigenes Hochseekanu gleichen Namens nach Tahiti brachte. Seit 2009 lernen Tahitianer an Bord wieder alte Navigations- und Segeltechniken – und die Werte der Ahnen.
Galax braucht diese Nachhilfe nicht. Mühelos und elegant bremst er am Pointe Vénus, hüpft über Bord und hält das Kanu fest. Dann reicht er Bananen und eine Box voll Thunfischtartar, sich selbst dreht er eine Zigarette.
Meisterstück Doppelrumpfkanu
Die Bucht mit dem feinen, schwarzen Sand ist einer der wenigen öffentlichen Strände auf Tahiti. Familien und Paare planschen im seichten Meer, Freunde spielen Volleyball, Kinder und Teenager reiten die sanfte Welle.
Die Pause ist kurz, aber wohltuend nach der rasanten, ruppigen Segelei. „Ab jetzt surfen wir“, sagt Galax, als er nach ein paar Paddelschlägen wieder das Segel fest zieht. „Willst du dich in die Matte legen?“
Gerne. Im Netz zwischen Kanu und Ausleger ausgestreckt lassen sich die grünen Berge und Täler gleich angenehmer beobachten. Zumal nun die Sonne durch die Wolken bricht und im Nu Haut und Hose trocknet. Derart hochgestimmt, würde ich gerne gleich weiter segeln, hinüber zur Schwesterinsel Moorea, deren Urwaldberge jenseits der Meerenge aufragen.
Dort, im Dorf Hauru an der Nordwestspitze der Insel, arbeitet Raphaël Labaysse an der großen Kanu-Renaissance mit. In seiner Werkstatt unter Mangobäumen reparierte der 31-Jährige schon als Teenager die Surfbretter von Freunden. Sein Meisterstück wurde die „Vaapiti“, die im seichten Wasser vor dem Dorfstrand schaukelt.
Fünf Jahre baute Labaysse an dem Doppelrumpfkanu, acht Meter lang, vier Meter breit. Für den Rumpf klebte er zentimeterdicke Holzstreifen zusammen, das Holz holte er sich selbst mit der Kettensäge aus dem Wald. Das Ganze überzog er mit Kunstharz.
„Ich mag es, alte und neue Materialien zu mixen“, sagt er. Die Dreieckssegel der „Vaapiti“ sind aus modernen Kunstfasern, aber traditionell polynesisch geschnitten. Manche Änderungen waren notwendig, um die Auflagen der Inselregierung für Touristenboote zu erfüllen. In der Saison segelt Labaysse jeden Tag mit Gästen durch die Lagune, die acht Plätze an Bord sind meist ausgebucht.
Navigation anhand von Vögeln und Wolkenformen
In der Nachbarbucht schnorcheln die Gäste mit Haien, Rochen und Schildkröten. Unterwegs erklärt Labaysse, wie die alten Polynesier anhand von Sonne und Sternbildern, Wind und Strömung navigierten. Und wie sie mit Hilfe von Vögeln und Wolkenformen Land fanden.
„Wir fahren langsam, so sieht man mehr“, sagt er. Viele Gäste buchten die Tour nur für das Segeln und Schnorcheln und seien dann fasziniert von der Kulturgeschichte.
Und wenn an manchen Tagen keine Touristen kommen, ist er auch froh. Schließlich habe er die „Vaapiti“ vor allem gebaut, um zum Fischen oder Surfen zu segeln. So wie es sein soll, das gute Leben auf Polynesisch.
Links, Tipps, Praktisches:
Reiseziel: Tahiti mit der Hauptstadt Papeete ist die Hauptinsel des französischen Überseegebietes Französisch-Polynesien. Es liegt im südlichen Pazifik.
An- und Einreise: Von mehreren deutschen Städten fliegen Airlines mit zwei Zwischenstopps nach Tahiti. Für die Einreise genügt der Personalausweis, wegen etwaiger Kontrollen während Zwischenlandungen sollte man aber trotzdem den Reisepass dabeihaben.
Reisezeit: In Französisch-Polynesien ist es ganzjährig warm bis heiß. Die Trockenzeit von April bis Oktober ist zugleich die Hauptsaison. In der Regenzeit von November bis März ist es feuchter und windiger, aber auch günstiger und einsamer.
Geld: 1 Euro entspricht knapp 120 CFP-Franc, der Zahlungsmittel ist (Stand: 24.10.2024).
Segeln: Ausflüge im Holopuni lassen sich bei Moana Explorer buchen. Zwei Stunden kosten ab 20.000 CFP-Franc, knapp 180 Euro. Eine dreistündige Sonnenuntergangs-Tour auf der „Vaapiti“ kostet pro Person 9000 CFP-Francs, etwa 75 Euro. Man sollte einige Wochen vorab reservieren.
Zeitverschiebung: Während unserer Winterzeit ist Tahiti elf Stunden zurück, während unserer Sommerzeit zwölf Stunden.
Weitere Auskünfte: Tahiti Tourisme
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