Nova Gorica in Slowenien trägt 2025 mit dem italienischen Gorizia gleich hinter der Grenze den Titel Europäische Kulturhauptstadt. Doch das feierliche Motto „Go Borderless!“ scheint bereits überholt.
Eine Kuh steht mit ihren Vorderbeinen in Jugoslawien, während sich ihre Hinterbeine auf italienischem Territorium befinden. Unter ihr ist eine Kalklinie zu sehen, die als provisorische Grenzmarkierung dient. Die Szene ist auf einem Foto festgehalten, das auf den 17. September 1947 datiert.
Ein Tag, an dem sich das Leben in Gorizia dramatisch verändert hat, denn der weiße Strich steht für die Umsetzung der Beschlüsse der Pariser Friedenskonferenz, die die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs im Februar des Jahres verabschiedet haben.
Sein Vater und dessen Brüder wussten, dass in Gorizia bald etwas passieren würde, wie Landwirt Mauro Leban vor Ort berichtet. Nicht aber was. Nun also wurden sie vor vollendete Tatsachen gestellt: Die Grenze würde parallel zur Eisenbahnstrecke Jesenice–Triest verlaufen – mitten durch den Hof der Familie.
Der Hof in Italien, die Felder in Jugoslawien
Wie der 64-Jährige erläutert, konnten sich seine Vorfahren aufgrund der außergewöhnlichen Konstellation für ein Land entscheiden. Ihre Wahl fiel auf den Verbleib in Italien. Doch ihre jenseits der Schienen gelegenen Felder gehörten fortan zu Jugoslawien.
Immerhin, so Leban, ließen sich die Behörden darauf ein, den Verlauf des Grenzzauns so nachzujustieren, dass wenigstens der Kuhstall italienisches Staatsgebiet blieb. Zudem erhielten die Familienmitglieder Sonderrechte: In den folgenden acht Jahren gehörten sie zu den wenigen Menschen, die die Grenze passieren durften – wenn auch nur zur Bestellung der Felder.
Diese Episode ist sinnbildlich für die bewegte Geschichte Gorizias, das bis zum Ersten Weltkrieg unter dem Namen Görz zur Doppelmonarchie Österreich-Ungarn gehörte. Schon damals war die Stadt kosmopolitisch, denn während man in den Ämtern Deutsch sprach, bestellte man seinen Kaffee auf Italienisch.
Die Harmonie fand 1915 ein jähes Ende, als sich die Habsburger vor den Toren der Stadt auf einen blutigen Stellungskrieg mit Italien einließen, der zwei Jahre dauerte und unzählige Menschen das Leben kostete. Doch auch nachdem aus Görz Gorizia geworden war, blieb die Stadt begehrt. Ministerpräsident Tito hätte sie gerne seinem kommunistischen Jugoslawien einverleibt. Weil die Siegermächte ihm dies verwehrten, beschloss er den Bau einer eigenen Stadt, die größer, schöner und moderner werden sollte: Nova Gorica.
Eine Planstadt für Tito
Gut zwei Kilometer nordöstlich vom Hof der Lebans erinnert ein Modell an den ursprünglichen Entwurf. Eine funktionale Planstadt mit einem alles überragendem Bau für die Kommunistische Partei, der ersten Fußgängerzone des Landes und T-förmigen Appartementblocks. Ein Kniefall vor Tito, dem viele Zeitgenossen damals zujubelten, da er die Region vom Faschismus befreit hatte.
Die Pläne wurden nur zum Teil realisiert. Doch das 13.000-Einwohnerstädtchen macht heute auch dank der 1995 gegründeten Universität einen vitalen Eindruck. Touristische Attraktionen befinden sich mit dem Franziskanerkloster Kostanjevica oder der Solkanbrücke in unmittelbarer Nähe. Das Bauwerk überspannt das grünliche Wasser des Isonzo (in Slowenien Soča), fußt auf dem weltweit größten Steinbogen und gehört zur Trasse der ersten transalpinen Eisenbahn, die Görz seit 1906 mit dem Kaisertum verband.
Der dortige Bahnhof gleicht einem Palast, der zurzeit aufwendig restauriert wird. Grund dafür ist der Zuschlag für den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt, den sich beide Städte 2025 gemeinsam mit Chemnitz teilen. Wie Projektleiter Marco Marinuzzi erläutert, schickte der turnusmäßige Ausrichter Slowenien Nova Gorica ins Rennen, das die Schwesterstadt unbedingt in die Festlichkeiten einbeziehen wollte. Gemeinsames Motto: „Go borderless!“
Auch am Bahnhof ist die Geschichte greifbar: Nach der Trennung fiel er zunächst an Jugoslawien, ehe er 1991 Bestandteil des unabhängigen Sloweniens wurde. Das gegenüberliegende Bahnhofshotel hingegen befand sich stets auf italienischem Boden. Zwischen beiden Bauwerken breitet sich die Piazza Transalpina aus, wo die zentrale Bühne der Hauptstadtaktivitäten stehen wird.
Assoziationen an ein Schlaraffenland
Rund um den Borgo Castello putzt sich auch Gorizia fein heraus. Die Keimzelle der Stadt geht auf das 11. Jahrhundert zurück und befindet sich weithin sichtbar auf einem 70 Meter hohen Hügel. Dank mächtiger Pinien, kerzengerader Zypressen und ockerfarbener Palazzi wirkt sie nicht nur fotogen, sondern auch betont italienisch. Überhaupt scheint es, als hätten die Wirrungen der Geschichte Gorizia nicht viel anhaben können.
Die Stadt, immerhin 35.000 Einwohner, präsentiert sich gepflegt und lebensfreudig, wobei es durch ihre Lage zu Füßen der Berge ein bevorzugter Ausgangspunkt für Radtouren und Wanderungen ist. Die Produkte aus Friaul-Julisch Venetien wecken zudem Assoziationen an ein Schlaraffenland: Burrata, San-Daniele-Schinken und die Weißweine aus dem Collio sind in den Lokalen eine Selbstverständlichkeit.
Erinnerung an die Teilung
Doch zurück zum Hof von Mauro Leban, wo ein Schlagbaum in den Farben der italienischen Trikolore die Erinnerung an die Teilung symbolisch wachhält. Gegenüber in einem kleinen Dokumentationszentrum berichten Zeitzeugen per Videoeinspielung von den Jahren, als sie ihre Familienmitglieder nicht besuchen konnten, weil diese im – deutlich kleineren – Ostteil des alten Gorizia oder später in Nova Gorica lebten. Auch erzählen sie vom Misstrauen, das sich in den Jahren der Trennung zwischen vermeintlichen Faschisten und angeblichen Kommunisten aufgebaut hat.
Bis 1955 hatte die hermetisch abgeriegelte Grenze Bestand, danach ermöglichte ein Abkommen Verwandtenbesuche. Doch selbst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der slowenischen Unabhängigkeit blieb der Grenzzaun 16 weitere Jahre stehen. Erst als das Land 2007 dem Schengenraum beitrat, wurde er abgerissen. Die letzte geteilte Stadt Europas war Geschichte.
Euphorie und Ernüchterung
Das anfängliche Misstrauen schlug schnell in Euphorie um, da beide Städte von der offenen Grenze profitierten. Nachdem Nova Gorica 2020 den Zuschlag für die Kulturhauptstadt erhalten hatte, war denn auch schnell klar, dass es erstmals in der Geschichte eine grenzübergreifende Kulturkapitale geben würde.
Niemand konnte damals wissen, dass sich die politischen Rahmenbedingungen im Vorfeld der Festivitäten abermals ändern würden: So hat die italienische Rechtsregierung unter Führung von Giorgia Meloni am 20. Oktober 2023 abermals Kontrollen an der Grenze zu Slowenien eingeführt.
Eine Praxis, der sich andere Staaten im vereinten Europa mittlerweile angeschlossen haben. Wer nun das jeweilige Nachbarland besucht, muss wieder Dokumente mit sich führen – und auf der italienischen Seite der Übergänge warten erneut Carabinieri. So mag „Go Borderless“ als Motto weiterleben. Doch in der Praxis ist das Konzept bereits Geschichte.
Links, Tipps, Praktisches:
Reiseziel: Nova Gorica liegt im Westen Sloweniens direkt an der italienischen Grenze, die die Stadt vom italienischen Gorizia trennt.
Anreise: Von München benötigt man mit der Bahn (Umstieg in Verona und Venedig) noch etwa 9,5 Stunden. Mit dem Auto sind es rund 5,5 bis 6 Stunden. Nächster Flughafen ist Triest.
Kulturhauptstadt 2025: Das Programm zu „Go 2025!“ beginnt am Wochenende des 7. bis 9. Februar. Der vollständige Inhalt wird noch bekanntgegeben. Einzelne Programmpunkte sind in den nahen Großstädten Triest und Udine geplant. Zu den Highlights gehören Konzerte von Robbie Williams und Sting. Das erwähnte Foto mit der Kuh kann im Haus der Stiftung Fondazione Cassa di Risparmio die Gorizia betrachtet werden.
Geführte Stadtrundgänge: in Nova Gorica buchbar über nova-gorica@vipavskadolina.si; in Gorizia unter explorefriuli.com
Weitere Auskünfte: vipavskadolina.si; turismofvg.it
© dpa-infocom, dpa:241124-930-298383/2
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