Ohne Plastik
Der Keinachtsbaum soll die Weihnachtstanne im Wald lassen

16.12.2022 | Stand 16.12.2022, 12:39 Uhr

«Keinachtsbaum» - Der «Keinachtsbaum», der den klassischen Tannenbaum ersetzt, besteht aus einem Holzstab, der jedes Jahr zu Weihnachten mit neuem Tannengrün bestückt wird. - Foto: Friso Gentsch/dpa

Für die meisten Menschen gehört zu Weihnachten ein Weihnachtsbaum im Wohnzimmer einfach dazu. Aber inzwischen plagt manchen das schlechte Gewissen, nur für ein paar Tage extra einen Baum zu fällen.

Der Keinachtsbaum steht nach ein paar Minuten: Nico Stisser holt mehrere Holzstangen aus einer Kiste, verschraubt sie miteinander und dreht am unteren Ende drei Stangen fest, um den zusammengeschraubten Stamm auf den Boden stellen zu können.

Oben befestigt er einen Weihnachtsstern. Dann greift er zu einem Bündel Tannengrün, zwickt und zwackt sich kleinere Äste ab und steckt diese in Löcher, die in den Holzstangen sind. «Wenn man geübt ist, dauert das eine halbe Stunde», sagt Stisser. Fertig ist der wiederverwendbare Weihnachtsbaum, ganz ohne Plastik.

Die Idee für den Baum hatte vor fünf Jahren Stissers Sohn. Der damals Vierjährige stieß in einem Kinderbuch aus der Pettersson-und-Findus-Reihe auf einen selbstgebauten Christbaum. «Da haben wir uns gedacht, genau das ist die Lösung», erzählt der heute 40-jährige Unternehmer aus der Region Osnabrück, der eigentlich Mediendesigner ist. Auf der Suche nach einem wirklich nachhaltigen Weihnachtsbaum sei seine Familie schon seit vielen Jahren gewesen: «Aber ein Baum aus Plastik, das kam für uns ganz bestimmt nicht in Frage.»

Umweltfreundlicher und nachhaltiger

Stisser ist überzeugt, dass sein Keinachtsbaum letztlich umweltfreundlicher und nachhaltiger als die klassische Weihnachtstanne ist. Zehn Jahre dauere es, bis eine Plantagentanne als Weihnachtsbaum geschlagen werden könne. «Und dann steht sie zwei Wochen im Wohnzimmer und wird anschließend weggeworfen.» Seine Tanne hingegen braucht nur jedes Jahr frisches Tannengrün. «Das können Sie als Baumerzeuger aus den Bäumen in der Tannenschonung herausschneiden, die Bäume aber stehen weiter und müssen nicht gefällt werden.» In dieser Frage habe ihn sein Sohn überzeugt. Der habe damals gesagt: «Ich finde es blöd, dass immer ein Baum gefällt wird.»

Die Idee mit dem wiederverwendbaren Weihnachtsbaum begeisterte Stisser so sehr, dass er vor zwei Jahren ein Crowdfunding für das Projekt ins Leben rief und im vergangenen Jahr das Produkt regulär über einen Internet-Shop vertreibt. 5000 Keinachtsbäume seien verkauft worden, sagt er. Die Holzstäbe werden in einem Fachbetrieb im lippischen Lemgo gedrechselt. Auch das Tannengrün - für einen Baum braucht man etwa zehn Kilo - vertreibt er über den Shop; er bezieht diese Ware unter anderem vom Weihnachtsbaumerzeuger Benjamin Schneebecke in der Nähe von Osnabrück.

«Win-Win-Situation»

«Toll wäre es, wenn die Baumerzeuger mit in das Projekt einsteigen würden», sagt Stisser. Denn er sei überzeugt, dass seine Idee keine Kampfansage an die traditionelle Weihnachtsbaumbranche sei, sondern eine logische Verbesserung, die das Produkt nachhaltiger mache. Wenn die Erzeuger nur noch Tannengrün verkaufen würden, wäre das eine «Win-Win-Situation».

Zumindest Schneebecke findet die Idee gut. Es gebe eine wachsende Zahl von Menschen, die aus ähnlichen Gründen wie Stisser den klassischen Weihnachtsbaum kritisch sähen. «Es gibt Kunden, die wollen nicht, dass ein Weihnachtsbaum für sie abgeholzt wird.» Für die sei der Keinachtsbaum eine «super Sache» und allemal besser als ein Baum aus Plastik. Seine Branche müsse auch diesen Kunden etwas bieten. «Unsere Branche produziert nicht nur Weihnachtsbäume, sondern auch Tannengrün.»

Wobei für die Weihnachtsbäume kein Wald abgeholzt werde, betont Schneebecke: «Viele verstehen nicht, dass Weihnachtsbäume extra angepflanzt werden auf Feldern, genauso wie Getreide oder andere Produkte.» Schneebeckes Kollege Bernd Oelkers, Vorsitzender des Verbandes der Weihnachtsbaum- und Schnittgrünerzeuger in Niedersachsen, Hamburg und Bremen, sieht aus diesem Grund auch gar nicht das Problem, was Stisser und andere Weihnachtsbaumkritiker umtreibt.

«Wir brauchen alle Rituale»

«Der Weihnachtsbaum hat eine wesentlich bessere CO2-Bilanz als etwa Raps, Weizen oder Zuckerrüben, die sonst auf den Feldern angebaut würden», sagt Oelkers. Wenn kein Weihnachtsbaum gekauft werde, werde auch kein Weihnachtsbaum mehr gepflanzt. Dann würde die CO2-Bilanz in Deutschland deutlich schlechter ausfallen, ist Oelkers überzeugt. Die meisten Weihnachtsbaumerzeuger sähen es ähnlich wie Oelkers, sagt Schneebecke, der auch Vorsitzender des Verbandes natürlicher Weihnachtsbaum ist.

Dennoch: Nico Stisser ist vom Keinachtsbaum überzeugt. «Es ist einfach ein super Gefühl, wenn ich weiß, dass für meinen Weihnachtsbaum im Wohnzimmer kein Baum draußen gefällt werden musste», sagt er. Zudem sei der Aufbau mit der Familie jedes mal ein schönes Erlebnis. «Das ist einfach Quality Time mit den Kindern.» Ganz ohne Weihnachtsbaum könne es kein Weihnachten geben. «Wir brauchen alle Rituale - und an Weihnachten einen Baum im Wohnzimmer zu haben, das ist ein wichtiges Ritual.»

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