Der Preis des Fortschritts

Peter Lund hat im Auftrag des Stadttheaters Ingolstadt ein Musical zum Frankenstein-Stoff geschrieben

21.11.2022 | Stand 19.09.2023, 3:51 Uhr

Zoff in der Familie: Joscha (Marc Simon Delfs) und Maria (Antje Rietz). Fotos: Nassal

Von Anja Witzke

Ingolstadt – Drei Monate gibt der Arzt Maria noch. Der Hirntumor wächst schnell. Und ist inoperabel. Die Familie ist geschockt. Will nicht wahrhaben, dass Maria sterben wird. Allerdings gäbe es die Möglichkeit, eine neue Therapie auszuprobieren, bei der das kranke Gewebe durch einen Computerchip ersetzt wird. Für Maria böte das Verfahren eine Überlebenschance, für Sophie ein Quantensprung auf ihrer wissenschaftlichen Karriereleiter. Die Medizinerin braucht die OP für ihre Dissertation. Als Maria dann ins Koma fällt, muss die Familie eine Entscheidung treffen. Sie setzt alle Hoffnung in die neue Technologie und das Implantat. Doch die „neue“ Maria ist ganz anders als die „alte“.

„Frankensteins Braut“ heißt das Musical von Peter Lund, das er im Auftrag des Stadttheaters Ingolstadt zum Wissenschaftsjahr geschrieben hat. Mary Shelley war zwar nie in Ingolstadt, hat aber bekanntlich ihren weltberühmten Doktor dort studieren lassen. Ihren „Frankenstein“-Roman hat Peter Lund als Inspiration genutzt für die Übertragung des Stoffes in die Jetztzeit zum Thema Künstliche Intelligenz. Schließlich sind Shelleys Fragen zur Beziehung von Mensch und Kreatur, beziehungsweise Mensch und Maschine in der Robotikforschung aktueller denn je.

Peter Lund ist Autor, Regisseur und seit 2002 Professor im Studiengang Musical/Show an der Universität der Künste Berlin. Seine Werke „Baby Talk“ und „Stella – Das blonde Gespenst vom Kurfürstendamm“ waren bereits in Ingolstadt zu sehen.

Für sein neues Projekt „Frankensteins Braut“ hat er sich eine Patchwork-Familie ausgedacht: Maria (Antje Rietz) – Assoziationen mit Mary Shelley und Maria aus „Metropolis“ sind durchaus beabsichtigt – ist Hennings (Richard Putzinger) zweite Frau. Carola (Renate Knollmann) ist zwar schon lange von Henning geschieden, aber trotzdem irgendwie noch Teil seines Lebens. Tochter Sophie (Luiza Monteiro) kommt gut mit der Stiefmutter aus, Sohn Joscha (Marc Simon Delfs) ist dagegen gerade in einem schwierigen Alter. Eine nicht gerade konfliktfreie Ausgangssituation für solch ein komplexes Thema, oder? „Da halte ich es mit Tolstoi: ,Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.‘“, sagt Peter Lund. „Eine glückliche Familie will im Theater keiner sehen. Zum einen ist es eine Erzählung über moderne Schuldhaftigkeit. Wir trennen uns, wir verlassen Partner, wir verlieben uns neu. Aber hier ist es eben nicht optimal gelaufen, das hat Spuren hinterlassen. Zum anderen kommt durch Marias Operation eine Art Computer ins Spiel, der sachlich und emotionsfrei nachbohren kann. Wenn Rationalität auf diese Familie triff, ist das spannender in einer dysfunktionalen Familie.“

Als zusätzliche poetische Ebene hat Peter Lund Zitate aus Shelleys Roman eingebaut, etwa wenn es um die Grenzen des Machbaren oder die Hybris der Wissenschaft geht: „Ich hielt den Schlüssel zur Schöpfung in meiner Hand“, lässt er Sophie sagen. „Frankensteins Braut“ ist ein Musical. Das geeignete Genre für solch eine komplexe Thematik? „Ich denke, man kann alles im Musical erzählen, aber es ist manchmal heikel, weil das deutsche Ohr unglaublich mimosig ist. Im amerikanischen Kosmos geht da mehr“, antwortet Peter Lund. „Ein Musical kann sehr viel mehr emotionalisieren. Schauspiel erzählt die Tragödie, Musik von der Heilung – Musiktheater aber vom Paradies.“

Mit zwei Komponisten arbeitet der Autor gewöhnlich zusammen: Thomas Zaufke und Wolfgang Böhmer. Letzterer hat die Musik für „Frankensteins Braut“ geschrieben. „Bevor ich schreibe, legen wir die Klangwelten fest. Da höre ich genau zu, denn das macht ganz viel mit den Texten. Wenn es ein bisschen komödiantischer wird, reimt sich mehr. In dieser Familie herrscht eine ganz gradlinige Sprache vor. So nah am echten Ton war ich noch nie.“ Und wie klingt die Musik? „Die ersten Songs sind fast schwebend und kaum einer Gattung zuzuordnen. Aber Wolfgang Böhmer bedient sich auch bei der Klassik und der ganzen Tonalität des Chansons. Wenn es gute Laune gibt, gibt es Operette. Und wenn der Computer ins Spiel kommt, wird es leichter, fast schlagerhaft.“

Eine Herausforderung war übrigens der Schluss, verrät Peter Lund: „Es ging sechs Mal anders aus: Beispielsweise, dass Maria so programmiert wird, dass sie prima reinpasst. Oder dass sie zur Putzmaschine wird, die man einfach ausschalten kann, wenn sie nervt. Oder auch, dass sie schlau genug ist, die Familie zu verlassen. Wir hatten sogar überlegt, dass wir digital verschiedene Enden einblenden.“ Er hat sich dann doch für ein Finale entschieden. Welches, erfährt man ab 3. Dezember – bei der Uraufführung im Großen Haus.

DK


Premiere von „Frankensteins Braut“ ist am 3. Dezember um 19.30 Uhr im Stadttheater Ingolstadt. Kartentelefon (0841) 30547200. Am 27. November um 11 Uhr findet im Foyer des Stadttheaters ein Gespräch mit den Beteiligten der Produktion statt – im Rahmen der Reihe „Sonntags vor der Premiere“.

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