Überleben mit Kultur

Das Wunderkind Justus Friedrich Eichhorn und die Philharmonie Lemberg beim Konzertverein Ingolstadt

15.11.2022 | Stand 19.09.2023, 5:32 Uhr

Wunderkind im Anzug: Justus Friedrich Eichhorn spielt das Klavierkonzert Nr. 2 von Ludwig van Beethoven, begleitet wird er von der Philharmonie Lemberg. Foto: Schaffer

Von Jesko Schulze-Reimpell

Ingolstadt – Es ist heute ein ungewohnter Anblick, wenn ein erst zwölfjähriges Kind in Anzug und Krawatte erscheint. Anzüge sind die typische Kleidung der erwachsenen Männer, sie sind Ausdruck von gehobener Professionalität, sie verströmen Ernst und Würde. Kinder, die Anzüge tragen, wirken dagegen wie verkleidet. So als würden sie ihre Kindheit verleugnen, als wollten sie gar keine Kinder sein.

Der erst zwölfjährige Pianist Justus Friedrich Eichhorn betrat genau in so einem dunklen Anzug die Bühne des Ingolstädter Festsaals, um das zweite Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven zu spielen. Die Kleidung sollte zeigen, worum es sich handelt: Um ein Kind, das irgendwie schon ein Erwachsener sein soll. Also um einen Widerspruch in sich. Um ein kleines Wunder.

Tatsächlich: Der Aufzug ist kein Versuch einer Anmaßung. Justus Friedrich Eichhorn spielt bereits wie ein Erwachsener, also auf absolut professionellem Niveau. Die schnellen Läufe sprudeln quirlig und gleichmäßig, genau wie bei anderen bekannten Pianisten. Das zweite Thema erklingt lyrisch und gesanglich. Zudem zeigt Eichhorn Stilgefühl und großes musikalisches Einfühlungsvermögen. Besonders die Ecksätze gelingen großartig, da Eichhorn mit großer Frische musiziert, mit viel Dynamik und Dramatik. Natürlich spürt man auch die Angespanntheit des noch sehr jungen Pianisten. So gibt es gleich beim ersten Einsatz einen winzigen Patzer (ein Ton kommt nicht). Aber spielt das überhaupt eine Rolle? Auch andere Pianisten mit weit größerem Namen und mit viel mehr Erfahrung verspielen sich. Aber es ist menschlich und macht Eichhorn sympathisch. Man spürt, wie er nach und nach sein Lampenfieber ablegt, immer mehr in die Musik hineinfindet, sicherer wird. Aber auch das ist nicht ungewöhnlich, so geht es auch viel älteren Musikern. Natürlich könnte man auch an seiner Interpretation herummäkeln. Manchmal besitzt Eichhorn noch nicht den langen Atem, den großen Spannungsbogen einer Phrase darzustellen – besonders im zweiten Satz. Gelegentlich klingt sein Anschlag, wenn er kräftig in die Tasten haut, sehr hart. Aber ist es fair, einem Zwölfjährigen das vorzuwerfen, der so unfassbar begabt ist und so außergewöhnlich gut Klavier spielen kann?

Ist also letztlich alles so, wie es uns der Anzug des kleinen Musikers suggeriert? Ein Konzert auf Erwachsenenniveau nur vorgetragen von einem Kind?

Es ist mehr als das. Denn Wunderkinder sind meist mehr als nur Kinder, die wie Erwachsene auftreten. Es gibt eine eigene Qualität des Kindlichen, die zauberhaft wirkt, eine engelhafte Reinheit des Ausdrucks. Man spürt Wunderkindern oft an, dass sie die Musik, die sie vortragen, noch mit seltsamer Unverbrauchtheit erleben, dass sie merkwürdig unvorbelastet spielen, fern aller allzu theoretischer Gedankenschwere. So musizieren sie manchmal wie kleine Engel, unglaublich unvermittelt, direkt, ohne alle Bedenken und mit natürlicher Musikalität. Genau das ist auch beim Spiel von Justus Friedrich Eichhorn zu fühlen und machte dieses Konzert so einzigartig.

Es betört selbst da, wo Eichhorn sich ein wenig überforderte – etwa bei Präludium und Fuge in G-Dur aus dem zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach, das er als Zugabe spielte. Eichhorn machte aus dem eher besinnlichen Stück einen höllisch schnell vorgetragenen Virtuosenreißer, der ihm alles abverlangte. Das klang imponierend, mitreißend – und wurde dem kleinen Stück doch nicht ganz gerecht. Aber auch diese eigenwillige Darstellung ist sympathisch und zeigt letztlich, was für ein außergewöhnliches Talent Eichhorn ist.

Souverän begleitet wurde Eichhorn von der Staatlichen Philharmonie Lemberg unter der Leitung von Gudni A. Emilsson. Das Orchester war vor zwei Jahren schon einmal beim Konzertverein Ingolstadt aufgetreten und hatte damals einen glänzenden Eindruck hinterlassen – genauso wie bei diesem Konzert. Auch wenn das Orchester erst ganz allmählich in Schwung geriet, bei Carl Maria von Webers „Oberon“-Ouvertüre. Die langsamen Einleitungstakte gerieten noch etwas hölzern, die Musik wollte nicht wirklich frei schwingen. Sobald aber der schnelle Teil erklang, konnte die Feenwelt zu tanzen beginnen. Wunderbar dagegen Antonín Dvořáks 8. Sinfonie mit ihren vielen suggestiven und volkstümlichen Melodien, die das Orchester prachtvoll entfaltete. Eine Wohltat für die Ohren, eine optimistische Wunderwelt.

Kaum zu glauben, dass die Musiker, umgeben von Krieg und Tragödien in ihrer Heimat, diese Musik so sinnlich und heilsam spielen können. Die Ukraine hat derzeit unfassbare Probleme. Aber wenn man diese Musik hört, dann kann man auch verstehen, dass es diesem Land wichtig ist, trotz aller Hindernisse, den Kulturbetrieb aufrechtzuerhalten. Denn die Musiker sind vom Kriegsdienst befreit. Kultur ist eben ein Stück weit überlebenswichtig.

DK



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