Mythos der Zerstörung

Choreograph Akram Khan gastiert mit seinem fulminanten Tanztheater „Outwitting the Devil“ am Stadttheater Ingolstadt

27.10.2022 | Stand 22.09.2023, 4:03 Uhr

Epos über Erinnerungen: Das Ensemble tanzt „Outwitting the Devil. Foto: Akram Khan Company

Von Robert Luff

Ingolstadt – Es geht um Leben und Tod, um Macht und Zerstörung und um den uralten Menschheitstraum einer gottähnlichen Existenz. Die Akram Khan Company gab an drei Abenden ein mitreißendes Gastspiel im Großen Haus und überzeugte dabei mit sechs Tänzern, die über sich hinauswuchsen. Der weltbekannte Choreograph und künstlerische Leiter des Projekts Akram Khan, ein Londoner Tänzer mit bengalischen Wurzeln, inszenierte den Aufbruch der Menschheit in eine neue, brutale Ära, die auch vor Mord und Raubbau an der Natur nicht zurückschreckt.

„Outwitting the Devil“ nannte er den fast 4000 Jahre alten narrativen Kern des sumerischen Gilgamesch-Epos um König Uruk, der mit seinem Begleiter Enkidu aufbricht, um seine Stadt zu erbauen. An ihrer Stelle steht allerdings ein zauberhafter Zedernwald, der dafür gefällt und gerodet werden muss. Die darin lebenden Tiere werden vertrieben, der Wächter des Waldes getötet. Doch Gilgamesch bezahlt diesen Frevel an den Göttern und an der Natur teuer, denn auch sein Freund und Begleiter Enkidu fällt den rachsüchtigen Göttern zum Opfer. Diese archaische Handlung aus einem der ältesten literarischen Werke der Welt in überzeugendes Körpertheater zu transkribieren, ist der Akram Khan Company grandios gelungen.

Mit nur sechs Tänzerinnen und Tänzern (Mythili Prakash, Luke Jessop, Jasper Narvaez, Louis T. Partridge, Elpida Skourou und François Testory) setzt Akram Khan den Reigen von Gewalt inmitten einer wilden Natur in ein emotional aufgeladenes Tanztheater um. Der Aufbruch des Menschen aus dem Holozän in die noch unbekannte Ära des Anthropozäns hat kosmische Dimensionen und verändert die Welt nachhaltig. Die Auswirkungen dieses Aufbruchs spüren wir noch heute, da sich der Mensch die Natur fast vollkommen angeeignet hat und sogar das Klima beeinflusst. Man sieht, hört und fühlt diese barbarische Aktualität des Stücks in jeder Geste und Bewegung der Tänzer, die auf einer spartanisch eingerichteten Bühne mit Licht und Schatten agieren und dabei eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse ertragen müssen.

Die nahezu hypnotische Kraft der dynamischen und temporeichen, akrobatischen und dann wieder zum anklagenden Standbild erstarrenden Moves der vier Tänzer erreicht die Zuschauer unvermittelt. Auch ohne den Text des babylonischen Epos zu kennen, versteht man instinktiv, was die Tänzer auf der Bühne gerade durchleben. Sie vereinen den klassischen indischen Tanz Kathak mit zeitgenössischen Elementen und einer atemberaubenden Akrobatik am Boden und in der Luft.

Auch die sparsam eingerichtete Bühne versinnbildlicht den uralten Mythos, denn die geometrisch angeordneten grauen Ziegelsteine stehen symbolisch für die Baumstümpfe des abgeholzten Zedernwaldes, über die wie Nebel die Geister der vertriebenen Tiere schweben. Aus den Steinen formen die Tänzer während der Darbietung auch zwei Kreuze und weisen damit auf die beiden Morde hin, die aus Zerstörungswut und Rache geschehen. Die größeren Blöcke im Hintergrund werden zur Bühne für den König oder zur Totenbahre für die Ermordeten formiert. Auf ihnen zeigt der alternde König Uruk (großartig von François Testory verkörpert) auch stumm seinen Schmerz und seine Verzweiflung.

Die elektronische Beschallung von Vincenzo Lamagna, in die sich in seltenen Momenten der Ruhe und Harmonie auch einmal Violinenklänge mischen, schafft eine dichte akustische Atmosphäre. Französische Wörter und Sätze aus dem Off weisen in die Vorzeit der Menschheitsgeschichte zurück und nennen die getöteten Tiere: Tiger und Spinne, Falke und Reh fallen dem willkürlichen Gewaltakt zum Opfer und übrig bleibt, in vielfachem Echo wiederholt, „l’homme“ – der Mensch. Und es bleibt die Göttin (Mythili Prakash), die über ihn triumphiert hat und aus deren Umhang die anderen Tänzer eine gigantische Welle formen. Am Ende verwandelt sich das Bühnenbild dann in eine Schattenlandschaft, hinter der schemenhaft die neu gegründete Stadt auftaucht. Für sie wurde und wird die Natur geopfert, doch heute greift keine strafende Göttin mehr ein. Wir befinden uns mitten in dieser Katastrophe, die selten so eindringlich präsentiert wurde wie durch die Akram Khan Company. Das Publikum war restlos begeistert.

DK

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