Zwischen Fantasie und Anarchie

Frenetischer Beifall für „Alle Lichter an“: Neues Singspiel von Anna Janina im Ingolstädter Altstadttheater

17.10.2022 | Stand 22.09.2023, 4:26 Uhr

Herrlich erfrischend und spritzig sind die musikalischen Dialoge zwischen der Struktur (Jascha Nadal) am Piano und der singenden Fantasie (Anna Janina). Foto: Luff

Von Robert Luff

Ingolstadt – Das neue künstlerische Projekt von Anna Janina und Jascha Nakladal heißt „Alle Lichter an – Ein Auftrag für die Fantasie“ und ist – um es gleich vorwegzunehmen – grandios gelungen, facettenreich und frech, voller Witz und skurril, zugleich aber authentisch und ein musikalischer Hochgenuss.

Zum ersten Mal präsentierte Anna Janina ausschließlich selbst geschriebene und komponierte Lieder und fand in Jascha Nakladal, der für die musikalische Leitung verantwortlich war, einen kongenialen Partner am Piano und für die zweite Sprechrolle. Der Plot des Singspiels ist so einfach wie genial: Das Großhirn beauftragt die Fantasie (Anna Janina) und die Struktur (Jascha), in den Erinnerungen der Künstlerin Anna Janina zu wühlen und daraus insgesamt zehn Lieder als Basis eines Liederabends zu komponieren. Natürlich haben die Lieder, die dann auch gleich erklingen, allesamt mit dem Leben von Anna Janina zu tun, mit Höhen und Tiefen, Liebe und Schmerz, aber auch mit Sexualität, Theater, Träumen und Literatur – einschließlich Klimawandel und Pandemie.

In diesem Panoptikum menschlicher Empfindungen singen und spielen sich Anna Janina und Jascha zur musikalischen Höchstform auf. Dies hat auch viel mit den spritzigen Dialogen zu tun (Text und Regie: Anna Janina), denn wenn die Struktur auf die Fantasie trifft, dann sind Konflikte vorprogrammiert. Zumal die Fantasie eine gewaltige, manchmal gar anarchische Kraft entfaltet, die jede Form von Rationalität sprengt. Und so wundert es auch nicht, dass sich die anfangs so spröde Struktur, die pedantisch nach Ordnung und einem roten Faden in diesen Erinnerungen sucht, sich unter dem Einfluss der Fantasie langsam verwandelt: äußerlich erkennbar an den Glitzerelementen, die sich im zweiten Teil der Show in die Kleidung und Requisiten von Jascha schleichen.
Situationskomik pur ist es, wenn sich die Fantasie eine kleine Auszeit gönnt und mal eben leise schnarchend auf einem Sitzkissen einschläft, während die Struktur endlich zu einem Solo am Piano findet. Oder wenn sich das Großhirn mal wieder per Telefon meldet und der Fantasie verbietet, sich an den Tagebüchern Anna Janinas zu bedienen. Frech auch ihr Lied „Es war einmal ein Mann, der hatte fast nichts an“, wobei sie die Begriffe, die sie im „Obszönen Wörterbuch der Deutschen“ findet, auch gleich als laminierte Karten an eine Wäscheleine hängt.

Beharrlich ringen Vernunft und Fantasie um einen Kanon aus zehn Erinnerungsliedern aus dem Leben der Anna Janina. Die dabei in den weißen Kartons, auf dem Dachboden, in Kisten oder im Reisekoffer gefundenen Stücke verleiten Jascha und Anna Janina zu hinreißend schönen Balladen wie „Die Traumwelt ist so wunderbar“ oder „Ich komme von den Sternen“, aber auch zu dunkel-melancholischen Klagen wie „Madame des désespoirs“, für das sich Anna Janina in den schwarzen Umhang der Hoffnungslosigkeit hüllt und das vielleicht schönste Lied des Abends in Moll anstimmt.

Eine Chronologie dieser Erinnerungen gibt es auf dieser schwarz-weißen Bühne, die eine Art Topographie des Hippocampus im menschlichen Gehirn darstellt, eigentlich nicht. Zu sprunghaft agiert dazu die Fantasie, auch wenn die Vernunft sie immer wieder einbremst, zu oft sitzt sie auf ihrer Schaukel der Imagination und taucht hemmungslos ein in die Welt der Anna Janina. Dabei eröffnet sie auch den künstlerischen Reigen und spannt den Bogen vom Lied über die zwei Seiten jeder Persönlichkeit „Du und ich“, eine Auseinandersetzung mit Hermann Hesses „Narziss und Goldmund“, über vertonte Zitate von Friedrich Hebbels „Herbstlied“, das sie filigran mit der Klimakatastrophe verknüpft, bis zu Marieluise Fleißer, aus deren „Abenteuer im Englischen Garten“ sie das Lied „Der Zauber des Theaters“ gewonnen hat. Dieser thematische Bogen ist deshalb so authentisch, weil Anna Janina damit ein Stück weit auch ihr eigenes Leben als Künstlerin vertont hat. Wenn sie mit ihrer so wandelbaren, aber stets glasklaren und raumfüllenden Stimme die Erinnerungen der Kunstfigur Anna Janina differenziert auslotet, dann weiß das Publikum: Hier singt eine begnadete Künstlerin über sich selbst. Frenetischer Beifall ist ihr Lohn.

DK




ZUR PRODUKTION

Theater:

Altstadttheater Ingolstadt

Regie:

Anna Janina
Musikalische Leitung:

Jascha Nakladal

Vorstellungen:

22.10., 15., 30.12., 13.01.

Kartentelefon:

(0176) 32607265

URL: https://www.donaukurier.de/nachrichten/kultur/zwischen-fantasie-und-anarchie-6720224
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