Ohne Worte

Großer Jubel für die Tanzstücke „Interaktion“, „Fliegende Wörter“ und „Schön Anders“ beim Südwind-Festival

04.07.2022 | Stand 22.09.2023, 21:34 Uhr
Alexandra Rimmelspacher

Tanzen, tanzen, tanzen: Das Kunstzentrum besondere Menschen lud ein zur „Interaktion“ (oben). „Schön Anders“ (unten, rechts) der Münchner Choreografin Ceren Oran greift das Thema Individualität und Gruppendynamik auf. Und in „Fliegende Wörter“ (unten, links) geht es um unterschiedliche Wortketten und ihre Assoziationen zu Musik und Tanz. Fotos: Schuktuew, Bloch, Rimmelspacher

Von Alexandra Rimmelspacher

Ingolstadt – Das Südwind-Festival hat sich zum Ziel gesetzt, Barrieren abzubauen und allen eine Teilhabe am Kulturleben zu ermöglichen. Drei Tanzproduktionen stellten das am Wochenende eindrucksvoll auf sehr unterschiedliche Art und Weise unter Beweis.

Bei „Interaktion“ waren Kinder mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen vom Kunstzentrum für besondere Menschen unter der Leitung von Maria Tietze mit professionellen Tänzern auf der Bühne und zeigten vor 600 Zuschauern im fast ausverkauften Großen Haus ihr Können.

Anastasia hat Trisomie 21 und sie hat ein außergewöhnliches Talent in der Malerei. Alles beginnt mit ihrem Selbstporträt vom 19.6.21, das Linie für Linie auf der großen Projektionsfläche erscheint. Dieses einprägsame Gesicht der Zeichnung inspiriert die Tänzer und Musiker zu ihren ganz eigenen Kreationen und vielen Höhenflügen: Ballett, Modern Dance, Breakdance, Akrobatik, Klassische Musik, Elektrobeats, Gesangsimprovisationen – ein breites Spektrum an Tanz- und Musikkreationen wird hier mit sehr viel Lebensfreude auf die Bühne gebracht.

Viele Gegensätze finden sich in diesem Projekt, die sich aber immer harmonisch ergänzen: Laut – leise, ruhig – hektisch, schnell – langsam, allein – zusammen, groß – klein, einstudiert – improvisiert, am Boden – in der Luft, Flächen – Linien. So entstehen berührend emotionale Momente, die einen auf das Wesentliche fokussieren: ganz bei sich zu sein, seinen Körper anzunehmen und jeden Moment zu genießen. Livemusik mit Klavier, Cello und Geige (Lewan und Giorgi Paresi und Nika Shamugia) und die großformatige Videoinstallationen von Esteban Nunez verstärken diese Emotionalität. Die Hauptakteure, die besonderen Kinder, genießen ihre Auftritte in vollen Zügen und am Ende verdientermaßen den tosenden Applaus des Publikums. Sogar eine kleine, spontane Musikeinlage von Theresa am Klavier ist noch drin.

Die in Istanbul geborene und inzwischen in München lebende türkische Tänzerin und Choreographin Ceren Oran nähert sich dem jungen Publikum mit zwei beeindruckenden Tanzstücken. „Fliegende Wörte“ wird mit zwei Tänzern und einer Musikerin am Samstag am Spielplatz Buxheimer Weg im Pius-Viertel gezeigt. Auch wenn anfangs nur wenig Publikum vor Ort ist, zieht es immer mehr Leute und vor allem Kinder spontan an. Und auch auf den Balkonen sieht man interessierte Zuschauer.

Geräusch, Klang, hüpfen, WIR, Suche und andere einfache Begriffe, die im Laufe des Stückes auf eine Tafel geschrieben werden, dienen Tänzern und Musikerin als Impulsvorgabe, sich mit den Wörtern spielerisch konkret und abstrakt auseinanderzusetzen, aber auch mit dem Ort und den Zuschauern. Die Rutsche dient als Klangkörper, die Fahrradklingel am abgestellten Fahrrad erzeugt Geräusche ebenso wie die Blätter des Baumes, die Haptik des Sandes wird untersucht, alles wird erforscht oder auch nur geordnet. Die Wörter gehen in Bewegungen über, geben den Rhythmus vor, evozieren Klangwelten, fördern das Miteinander, Blickkontakte inspirieren Gedanken, lösen Emotionen aus. Vieles spielt sich mitten unter den Zuschauern ab, die sich über den Spielplatz verteilt haben. Höhepunkt ist sicherlich die Assoziation des Begriffs Spiegel, bei dem die Tänzerin und der Tänzern einzelne Personen in ihrer Haltung, ihrer Mimik und Gestik spiegeln. Anfangs noch zögerlich werden die Gespiegelten immer mutiger und kreativer in ihren Bewegungen, Spaßfaktor bei allen anderen garantiert. Eine tänzerisch und musikalisch auf höchstem Niveau präsentierte Darbietung, die uns die Welt wieder neugierig mit Kinderaugen sehen lässt und ganz ohne (gesprochene) Worte überzeugt.

Diese spielerische Herangehensweise legt Ceren Oran auch bei „Schön Anders“, das am Sonntag im Großen Haus gezeigt wird, an den Tag. Das Publikum sitzt mit auf er Bühne und ist damit ganz nah dran am Geschehen. Non-verbal setzt sich das Tanztheater mit einer zentralen und immer aktuellen Frage des Miteinanders im gesellschaftlichen Kosmos auseinander: nämlich anders zu sein als die anderen. Und natürlich stellt sich am Ende die grundsätzliche Frage: „Was ist eigentlich anders?“ Kindern ab 6 Jahren das so eindringlich, leichtfüßig, humorvoll, präzise und leicht verständlich ohne Worte zu präsentieren, ist ganz große Kunst und wird am Ende mit großem Jubel belohnt.

Am Anfang noch vereinzelt auf der Bühne, wenn auch die ähnlichen, aber nicht gleichen grauen Kostüme eine Zugehörigkeit schon erahnen lassen, finden sich alle Tänzer schnell als Gruppe zusammen über ein simples Accessoire, die weiße Sonnenbrille, die auch exakt gleich getragen werden muss. Roboterhafte Tanzbewegungen und zeitversetztes Kopieren bis zum Gleichklang unterstreichen diese Gruppendynamik.

Im Laufe der Stücks lösen sich aber immer Einzelne aus der Gruppe, sei es durch eine anders farbige Sonnenbrille, einen unterschiedlichen Tanzstil oder einen anderen Rhythmus und dann wird tänzerisch nach Herzenslust gespielt mit diesem Reigen aus Ausgrenzung, Einbindung, Abspaltung, Freiheit, Herdentrieb, Eifersucht, Neid und über allem der Sehnsucht nach Individualität, alles herrlich musikalisch untermalt an den Keyboards von Benny Omerzell. Ein einzelner Stuhl lässt sich dabei choreographisch mit perfekter Körperbeherrschung urkomisch von ein bis fünf Personen bevölkern! Dass die Gruppe am Ende am besten als Zusammenschluss vieler Individuen funktioniert, ist selbstverständlich. Dieses Tanztheater sticht in jedem Fall heraus, es ist ANDERS, aber wunderSCHÖN.

DK

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