„Kollektives Versagen mit Ansage“

Ludwig Spaenle über den Antisemitismus-Eklat auf der documenta und Grenzen der Kunstfreiheit

22.06.2022 | Stand 22.09.2023, 21:59 Uhr

Ludwig Spaenle ist Antisemitismus-Beauftragter der bayerischen Staatsregierung und spricht im Interview mit unserer Zeitung über den Eklat auf der documenta fifteen in Kassel. Foto: Balk, dpa

München – Ludwig Spaenle, CSU-Politiker, ehemaliger Kunstminister und seit 2018 Antisemitismus-Beauftragter der bayerischen Staatsregierung, hat sich gegenüber unserer Zeitung über den Antisemitismus-Eklat auf der documenta in Kassel geäußert. Die Installation „People‘s Justice“ des Künstlerkollektivs Taring Padi hat wegen der antisemitische Bildsprache eine Welle der Empörung ausgelöst. Die Verantwortlichen der documenta hatten zunächst entschieden, das Werk mit schwarzen Stoffbahnen zu verhängen. Am Dienstagabend wurde es abgebaut.

Herr Spaenle, die documenta fifteen stellt antisemitische Fratzen aus. Sie waren bis 2018 Kunstminister Bayerns. Wo endet die Freiheit der Kunst?

Ludwig Spaenle: Kunstfreiheit ist von der Verfassung geschützt. Das hat hohe Bedeutung, denn wir haben auch andere Zeiten erlebt. Aber Freiheit endet dort, wo der gesetzliche Rahmen Grenzen setzt. Und bei Antisemitismus sind diese Grenzen überschritten.

Karikaturen von Charlie Hebdo lösten 2005 einen Aufschrei aus, Muslime fühlten sich im Innersten getroffen. In Deutschland wurde argumentiert, die Karikaturen müsse man aushalten. Wie schauen Sie im Licht der documenta darauf?

Spaenle: Die Abwägung zwischen Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit ist immer wieder neu zu treffen. Der Grat, auf dem sich solche Entscheidungen bewegen, ist schmal. Antisemitische Darstellungen aber sind immer vor der historischen Dimension der industriellen Vernichtung von Millionen Menschen zu sehen.

In Kassel machten Politiker den Eindruck, sie seien so sehr damit beschäftigt, aktuell wohlfeile Meinungen zu formulieren, dass ihnen der Blick fürs Wesentliche – antisemitische Bilder mitten in der Stadt – verloren ging.

Spaenle: Zunächst will ich unterstellen, dass alle Akteure im politischen Raum das Beste anstreben. Aber der Fall documenta ist, ich kann es nicht anders sagen, ein kollektives Versagen mit Ansage. Es ist ja nicht so, dass man völlig erstaunt sein musste, als das Banner aufgestellt wurde. Die Debatte, wie die Veranstalter auf Antisemitismus-Vorwürfe reagieren müssen, läuft doch seit Monaten. Die Eskalation, die jetzt zu hektischen Entscheidungen führte, hätte man vermeiden können. Fraglich ist, ob diese Vermeidung von allen Akteuren überhaupt gewollt war.

Wenn Politik auf Kunst trifft, knirscht es. Sollte sich Politik aus Kunst heraushalten? Oder muss sie sich einmischen, nicht zuletzt, weil die 42 Millionen Euro für die documenta zum Großteil aus Steuergeld fließen?

Spaenle:
Kunstpolitik sollte man möglichst wenig spüren. Kunstpolitik soll Türen öffnen, Möglichkeiten schaffen. Aber sie steht natürlich in der Verantwortung, die in der Verfassung verankerten Werte zu schützen. Und Antisemitismus ist in der Kunst ein besonders sensibles Feld. Lassen Sie mich den Blick auf einen anderen Punkt richten: Mit der bewusst oder unbewusst gesetzten Provokation der Kuratoren haben die Künstler die Chance vertan, die Anliegen des globalen Südens einer breiten Öffentlichkeit bewusst zu machen. Alles wird nun überstrahlt durch das mehr als unappetitliche Thema Judenfeindlichkeit. Die Wirkung ist verheerend – auch für die Künstler und für ihre Botschaft.

Sie waren Kunstminister. Wie hätten Sie in Kassel agiert, im Minenfeld zwischen Kunstfreiheit und Antisemitismus?

Spaenle: Ohne jetzt groß über „hätt i, dad i, war i“ spekulieren zu wollen: Die Antisemitismus-Debatte zur documenta, die seit Wochen brodelte, sie hätte bei mir – hoffe ich! – die Alarmglocken schrillen lassen. Was auch immer eine tiefgehende Prüfung aller Punkte ergeben hätte: Ein so peinliches Kollektiv-Versagen wäre hoffentlich erspart geblieben.

DK


Das Interview
führte Marianne Sperb.


Foto: Balk, dpa

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