Das Gelächter der Idioten

12.12.2007 | Stand 03.12.2020, 6:17 Uhr

"Die Psalmen bedeuten mir mehr als alle meine Romane", erklärte Arnold Stadler. - Foto: Buckl

Eichstätt (DK) Was ist der meistgelesene, der meistübersetzte Gedichtband weltweit? Shakespeares Sonette? Die Gedichte Goethes? Weit gefehlt! "Das erfolgreichste Lyrikprojekt der Geschichte" ist das Buch der Psalmen.

Der legte seine Übertragung, erstmals 2005 erschienen, unter dem launig wirkenden Titel "Die Menschen lügen. Alle" vor. Am Dienstagabend stellte er das Buch bei einer Lesung in der Katholischen Hochschulgemeinde (KHG) Eichstätt vor; bereits mittags hatte er auch eine Lesung aus seinem neuen Roman "Komm, gehen wir" für 250 Schüler des Gabrieli-Gymnasiums in der Aula der Universität gegeben.

Schon seit 35 Jahren fesseln und faszinieren die Psalmen den 1954 geborenen Autor, der einst Katholische Theologie studierte, Pfarrer werden sollte und für den Wörter wie "Hosianna", "Halleluja" oder "sela" zum eigenen Wortschatz geworden sind. Akribisch geht er Wortbedeutungen nach, wenn er aus dem Hebräischen übersetzt – muss es "dürsten" oder "Durst haben" heißen? Und was ist eigentlich ein "Frevler"? Wer heute die Bibel liest, hat oft vergessen, dass es die Sprache Luthers ist, die einem vertraut und authentisch erscheint – doch dessen Übertragung der Psalmen sei "schnell hingeschmissen" und nachweisbar "voller Fehler", wenngleich sie zum normativen Text wurde und trotz aller Mängel "schön" ist. Stadler gibt sich bescheiden: "Es wäre lächerlich, wenn ich geglaubt hätte, ich müsste und könnte es noch besser machen als die Übersetzer vor mir." Doch jede Zeit müsse sich den Text neu aneignen, jede Generation ihre Sprache zum Vorschein kommen lassen.

Unumwunden gibt der Romancier zu: "Die Psalmen bedeuten mir mehr als alle meine Romane, und damit ist es mir ernst!" Ihm ist bewusst, dass viele der Texte heute weithin falsch verstanden werden – so etwa Psalm 22 ("Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen"), die Worte, die Jesus am Kreuz sprach. Aber diese seien eben "gerade nicht eine Bankrotterklärung im Angesicht des Todes", sondern "hier zitiert Jesus einen ihm vertrauten Text aus seinem eigenen Liederbuch", und dieser Text endet optimistisch: "Den Herren sollen finden, die ihn suchen, und aufleben soll euer Herz, für immer!"

Wie wortmächtig-zeitlos und dennoch modern zugleich Stadlers Übersetzung ausfällt, zeigt seine Version des Endes von Psalm 39: "Entreiß mich doch allen, die mir Unrecht tun, und setzt mich nicht dem Gelächter dieser Idioten aus!" Und kongenial Bibel-Sound mit typischem Stadler-Ton zu vermischen gelingt dem übertragenden Dichter mit seiner Version des bekannten Psalm 90: "Unser Leben dauert vielleicht siebzig / Jahre, wenn es hochkommt, sind es achtzig / Noch das Schönste daran ist / nichts als Schmerz. / Das Leben ist kurz und schmerzlich. / Einmal das Dorf hinauf und hinunter: / so sind wir unterwegs." Das ist jener Text, den Hans Scholl von der "Weißen Rose" kurz vor seiner Hinrichtung noch mit ganz anderen Worten gebetet hat.

Warum hat Stadler seiner Übertragung den eigenartigen Titel "Die Menschen lügen. Alle" gegeben – ist das Ironie, gar Satire? "Aber nein", bescheidet der Autor entsetzt dem Fragesteller aus dem Publikum: Wer satirisch schreibt, ironisiert und distanziert sich. "Ich aber identifiziere mich, ich engagiere mich." Die Zuhörer spürten: Der aktuelle Preisträger Martin Mosebach ist keineswegs der einzige mit dem Büchnerpreis geadelte Autor, der es mit dem Glauben ernst meint.

 

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