Tragödie auf dem Abenteuerspielplatz

31.03.2008 | Stand 03.12.2020, 6:01 Uhr

Simon Mayrs Oper "Fedra" behandelt einen Stoff aus der griechischen Mythologie, der durchaus zeitgemäße Bezüge zulässt. Die Titelrolle in Braunschweig singt Capucine Chiaudani. - Foto: Bort

Braunschweig (DK) Das Orchester bietet alles auf, was es kann: Ein gewaltiger Moll-Akkord tost durch den ausverkauften Saal des Staatstheaters Braunschweig. Hippolytos steht inmitten der Bühne, mit einem Messer wühlt er in den Eingeweiden eines toten Wolfes.

So schockierend beginnt "Fedra" von Johann Simon Mayr in der deutschen Erstaufführung am Staatstheater Braunschweig. 1820 wurde die Oper an der Mailänder Scala uraufgeführt. 1847 ging zum letzten Mal eine Oper des Mendorfer Komponisten über die Bühne, ausgerechnet in New York. Nach 161 Jahren also hatte zum ersten Mal ein großes Musiktheaterwerk des "Vaters der italienischen Oper", wie Mayr immer wieder genannt wird, Premiere. Ein bewegender Augenblick für die Freunde des Komponisten, die aus verschiedenen Himmelsrichtungen zu diesem Ereignis angereist waren. Sie feierten nicht nur einfach ein Theater-event: Hier hob sich der Vorhang für ein neues Zeitalter der Mayr-Rezeption.

Heimliche Liebe

Die packende Anfangsszene des Mayr-Spätwerks ist nur der Start für ein spannendes, musikalisch vielschichtiges, erschütterndes Opernerlebnis am Theater Braunschweig. Hippolytos, der Jäger, ist wie alle Mitglieder der Königsfamilie zutiefst verzweifelt. Sein geliebter Vater, König Theseus, ist im Krieg gefangen genommen worden. Als die Nachricht von seinem Tod bekannt gegeben wird, schwinden alle Hemmungen. Fedra, Ehefrau von Theseus und Stiefmutter des wilden Jägers, gesteht Hippolytos ihre lange verheimlichte Liebe, wird aber vom Stiefsohn grob zurückgewiesen. Ein verhängnisvoller Fehltritt. Eine Maschinerie der verhängnisvollen Leidenschaften wird nun in Bewegung gesetzt. Unweigerlich taumeln alle Beteiligten dem Tragödien-Abgrund entgegen. Denn Theseus ist überhaupt nicht tot. Von einem Gott befreit steht er bald wieder vor Ehefrau und Sohn und grübelt über die merkwürdig veränderte Familiensituation, die unglücklichen Gesichter und die Zurückweisungen. Atide will ihrer Herrin Fedra aus der Not helfen. Sie suggeriert Theseus, dass sein Sohn sich umbringen wollte, weil er seine Stiefmutter nicht verführen konnte. Theseus verstößt seinen Sohn und lässt ihn töten. Viel zu spät ahnt der König die wahren Zusammenhänge. Die bestürzte Fedra vergiftet sich, wird von Männern geschändet und von Frauen verteidigt. Der Vorhang fällt.

Mayr hat zu diesem Libretto von Luigi Romanelli eine einfallsreiche, handwerklich souveräne, hochmelodiöse und packende Musik geschrieben. Sie ist so gut, dass man kaum fassen kann, dass ein derart gelungenes Werk so lange vergessen war. Der späte Mayr hat sich dabei von seinem Vorbild Mozart längst gelöst. Hier klingt alles ganz ähnlich wie Rossini, und wirkt wie ein Vorbote der genialen Opern von Bellini, Donizetti und sogar Verdi – etwa, wenn Mayr die Ankunft des Herrschers Theseus mit einer reinen Bläser-Bühnenmusik ankündigt. Überhaupt vermag es Mayr, äußerst geschickt und farbig zu instrumentieren. Das Englischhorn untermalt in der ersten Fedra-Arie gefühlvoll das Leiden der Königin, später kritisiert Theseus seine Frau und wird dabei von synkopischen Pauken und Trompeten begleitet. Immer wieder geben Posaunen, Trompeten und Hörner grelle Farbtupfer.

Gerd Schaller am Dirigentenpult des Braunschweiger Staatsorchesters dirigiert das mit Drive und Präzision. Eine glückliche Hand bewies das Theater auch bei der Auswahl der Sänger. Besonders die teuflisch schwierige, koloraturenselige, sehr tief und dann wieder sehr hoch liegende Fedra-Partie wurde von Capucine Chiau-dani mit großer, dunkel-leuchtender Stimmer bravourös dargestellt. Eindruck machten auch Tomasz Zagorski als Theseus und Rebecca Nelsen in der Hosenrolle des Hippolytos.

Verwirrende Änderungen

So grandios die Musik von "Fedra" ist: Allzu großes Vertrauen hatte man in Braunschweig dennoch nicht in das frühromantische Werk. Regisseurin Kerstin Maria Pöhler und Bühnenbildner Frank Fellmann glaubten jedenfalls dem Libretto (nach der "Phédre" von Racine) etwas aufhelfen zu müssen und veränderten die Handlung an entscheidenden Stellen, was aber eher Verwirrung stiftet.

Frank Fellmann hat in Braunschweig eine Art romantischen Abenteuerspielplatz inmitten einer sterilen Rotunde gebaut: Hier trifft archaische Wildnis auf die keimfreie Firmenzentrale der Macht. Wenn die Gefühle hochkochen, stürzen sich die Protagonisten in den Miniaturdschungel, kraxeln die Leiter hoch, hängen sich in den Maschendrahtzaun, beschmieren sich mit ekligem Matsch, während Katzen enthemmt um das herabhängende erlegte Wild turnen: Hier geht es um gefesselte Leidenschaften, aufgestaute Emotionen, halsbrecherische Liebesabenteuer kurz vor dem endgültigen Absturz. Ein solches Leben kann nicht gutgehen. Am Ende des ersten Aktes fegt ein gewaltiger, von Mayr suggestiv komponierter Sturm über das Königreich hinweg. Der Kletterbaum inmitten des Abenteuerspielplatzes stürzt und bringt das Königreich in gefährliche Schieflage.

Später richtet König Theseus mit einem Seil den Baum wieder auf – und entdeckt dabei den angebundenen toten Hippolytos. Die Menge fällt wütend über Fedra her, bindet sie ebenfalls an den Baum. Das tragische Finale beginnt: Fedra singt ihr Todeslied, eingeleitet von einer hochemotionalen, ausschließlich von Bläsern gespielten Trauermusik. Das mitreißende Ende einer Tragödie – die den Ingolstädter Zuhörern im Saal allerdings durchaus bekannt vorkommen dürfte. Die Musik hat Mayr 1822 auch für sein Oratorium "Atalia" verwendet, das in Ingolstadt mit großem Erfolg aufgeführt wurde. Bravos und begeisterter Beifall am Ende für die wunderbaren Darsteller, die fantasievolle Regie und besonders für den wiederentdeckten, meisterhaften Opernkomponisten Simon Mayr.

 

Eine Aufnahme von "Fedra" wird am 10. April um 20 Uhr im Norddeutschen Rundfunk gesendet. Später wird auch der Bayerische Rundfunk den Mitschnitt ausstrahlen. Am 5. Juli ist das Staatstheater Braunschweig mit "Fedra" zu Gast bei den Audi-Sommerkonzerten.

 

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