"Kirche muss sich eindeutig auf Seite der Opfer stellen"

03.12.2010 | Stand 03.12.2020, 3:23 Uhr

Gabriele Heyers, Fachärztin für psychosomatische Medizin. - Foto: gi

München (DK) Der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche hat zu einer Hochkonjunktur in den psychotherapeutischen Praxen und Beratungsstellen in Bayern geführt. Die professionellen Helfer sind gefragt wie nie.

"Plötzlich ist das Thema wieder präsent und fördert Dinge zutage, die manchmal Jahrzehnte zurückliegen können", sagt Gabriele Heyers. Sie ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Vorsitzende des Trauma Hilfe Zentrums München e. V. (THZM). Das Zentrum wurde 2005 von Spezialisten gegründet, die unter anderem auf dem Gebiet der komplex-chronischen Traumafolgestörungen arbeiten.

Chronisch traumatisierend für Menschen sind Ereignisse wie Missbrauch, Gewaltanwendungen physischer oder emotionaler Natur. Bei ihrer langjährigen Arbeit mit Traumapatienten wurde Heyers klar, dass es vor allem um eine Botschaft geht: Nicht der Betroffene ist "falsch", sondern das, was ihm passiert ist, ist "falsch".

Umso weniger ist es für Heyers nachvollziehbar, dass sich kirchliche Missbrauchsopfer zuerst an die Kirche wenden sollen, um eine Missbrauchstat anzuzeigen und sich beraten zu lassen. Sie plädiert stattdessen für eine freie Beraterwahl des Opfers. Denn von der Kirche ausgesuchte Therapeuten könnten von den Betroffenen leicht als kirchentreu angesehen werden, immerhin würden sie von der Kirche bezahlt. Befragungen hätten zudem ergeben, "dass ein absolutes Misstrauen der Patienten gegenüber der ,Täterinstanz’ Kirche herrscht", sagt die Ärztin.

Eine ihrer Patientinnen wurde im Kindesalter von einem Pfarrer missbraucht und wandte sich jetzt an die Kirche. Die Beratung sei wieder von einem Seelsorger durchgeführt worden, moniert Heyers.

Kommt es in Beziehungen zu einer Gewalterfahrung wie in den Fällen kirchlichen Missbrauchs, dann spielt die Bindung laut Heyers eine besondere Rolle. Die Missbrauchstäter sind in der Regel die Bezugspersonen, also Lehrer, Pfarrer, Betreuer oder Vorgesetzte, die das Trauma auslösen. "Das entfaltet eine besondere Dynamik, weil die, die eigentlich schützen sollen, verletzen", sagt Heyers.

Christlich geprägte Eltern könnten häufig nicht verstehen, was ihren Kindern passiert ist, weil sie der kirchlichen Instanz vertrauten. Wenn die Kirche es mit der Aufarbeitung des Missbrauchsskandal also ernst meine, müsse sie "eine eindeutige Stellungnahme für die Opfer abgeben", sagt die Fachärztin. Dazu gehöre auch die Nennung der Opferzahlen, ganz unabhängig davon, ob es zu staatsanwaltlichen Ermittlungen gekommen ist oder nicht.

Eine der heikelsten Fragen in der noch relativ jungen Disziplin der Traumaforschung ist zudem die Erinnerung. Wie kommt es, dass jemand so etwas wie Missbrauch jahrzehntelang total vergessen kann? "Die Teil-Amnesie ist ein wesentliches Symptom der traumatischen Belastungsstörung", sagt Heyers. Mit anderen Worten: Das Erlebnis war so schrecklich, dass es von der Psyche zur Seite geschoben werden musste. Das Gehirn hat dafür einen gnädigen Mechanismus gefunden, den der Zersplitterung. Dabei werden die belastenden Erlebnisse in Hirnregionen abgespeichert, die dem Alltagsbewusstsein nicht zugänglich sind. Das sei auch der Grund dafür, dass Missbrauchsopfer im Zeugenstand oftmals Probleme haben und verwirrende Aussagen machen. Ihnen dennoch nicht zu glauben, wäre fatal und käme einer Retraumatisierung gleich, meint die engagierte Ärztin.

Das THZM hat zur Zeit im Schnitt 200 Orientierungsberatungen pro Jahr und etwa 60 Teilnehmer in den Stabilisierungsgruppen.

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