Ingolstadt

"Sie waren die Stimme einer Generation"

Grünen-Politikerin Claudia Roth war in den 80er Jahren Managerin von Ton Steine Scherben – Morgen hat das "Rio Reiser"-Musical Premiere

23.06.2015 | Stand 02.12.2020, 21:09 Uhr

−Foto: Chaperon

Ingolstadt/Berlin (DK) „Keine Macht für Niemand“ und „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ – die Songs von Ton Steine Scherben waren der Soundtrack einer ganzen Generation. 1985 löste sich die Band auf und Frontmann Rio Reiser ließ sich solo zum „König von Deutschland“ krönen. Sein bekanntestes Lied gab den Titel für das Musical von Heiner Kondschak, mit dem das Stadttheater Ingolstadt die Saison im Turm Baur beendet. Mit der Geschichte der Band vom überraschenden Durchbruch 1970 nach ihrem Festival-Auftritt neben Jimi Hendrix bis zu ihrem Ende zeichnet er auch ein Stimmungsbild der damaligen Bundesrepublik. 1996 starb Rio Reiser im Alter von 46 Jahren. Claudia Roth, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, war drei Jahre lang Managerin von Ton Steine Scherben – und hört immer noch gern die alten Songs.

Frau Roth, was würden Sie machen, wenn Sie Königin von Deutschland wären?

Claudia Roth: Es gäbe ein großes Fest für alle Menschen in diesem Land. Dann würde ich eine neue Staatsbürgerschaft einführen: Alle, die in Deutschland leben, sollten tatsächlich die gleichen Rechte haben.

 

Was fällt Ihnen spontan ein, wenn Sie an Rio Reiser denken?

Roth: Seine Authentizität. Seine Glaubwürdigkeit. Seine Echtheit. Wie kaum ein anderer hat er jeden Song auf der Bühne „erlitten“. Und es gelang ihm, seine Gefühle auf die Zuhörer zu übertragen.

 

Wie sind Sie eigentlich mit der Musik und der Band in Berührung gekommen?

Roth: In den wilden Jahren Anfang der 70er Jahre galten Ton Steine Scherben als Stimme einer Generation, die ausbrechen wollte aus der Spießigkeit. Die eine gerechte Welt wollte, die für Minderheiten kämpfte. Also die emotionale Umsetzung all dessen, was mit der 68er-Bewegung zu verknüpfen ist. Die Scherben lieferten mit ihren Hymnen wie „Der Traum ist aus“ oder dem „Rauch-Haus-Song“ den Sound dazu. Ich kannte natürlich ihre Musik. 1975 lernte ich dann Rio persönlich kennen. Ich arbeitete in der Dramaturgie am Theater Dortmund, wo Rios Bruder Peter Leiter des Kinder- und Jugendtheaters war. Einmal in der Spielzeit gab es immer eine Produktion mit Rio und den Scherben.

 

Das Lied „Manager“ beschreibt die Aufgaben eines Managers: morgens pünktlich wecken, aufpassen, dass nicht zu viel geraucht wird, das Mofa frisieren, vorm Ruin bewahren . . . Zählte das tatsächlich zu Ihren Aufgaben in den drei Jahren als Managerin?

Roth: Managerin war ich schon mal nicht. Das wäre ein kapitalistischer Begriff gewesen, den wir ablehnten. Es gibt eine Platte, da haben wir lange überlegt, wie wir meine Funktion bezeichnen sollten. Wir einigten uns auf „Organisation: Claudia und die sieben Scherben“. (lacht.) Meine Aufgaben waren das Zusammenhalten, die Organisation der Tournee, die Vermarktung der Platten – und zwar ohne Plattenindustrie im Hintergrund. Das war Anfang der 80er Jahre extrem schwer. Ich habe auch versucht, den Kontakt mit den Fans in der DDR aufrechtzuerhalten oder sogar eine Genehmigung für Konzerte dort zu bekommen. Aber das ist uns nie gelungen. Da durften Schlagerfuzzis spielen, aber nicht die Scherben.
 

Sie lebten mit der Band gemeinsam auf einem alten Bauernhof auf Fresenhagen.

Roth: Das Leben dort war sehr intensiv. Es war die totale Auflösung der Grenzen zwischen Arbeit, Privatleben und Familie. Zum einen lernte ich viel über den künstlerischen Prozess. Denn die Lieder fielen Rio ja nicht einfach beim Frühstück ein. Zum anderen lernte ich damals auch, dass sich Reichtum nicht nur übers Konto bemisst. Es gab auch Zeiten, da hatten wir nicht mal die 15 Mark am Tag, die wir für das gemeinsame Essen samt Verpflegung der Tiere angesetzt hatten. (lacht.) Da lohnte es sich, dass ich aus Schwaben komme. Ich übernahm die Haushaltsregie und sorgte dafür, dass von der Gage erst mal der Kühlschrank gefüllt wurde, bevor der Rest verteilt wurde. Und die schwäbischen Gerichte lagen immer weit vorn: Legendär sind meine Linsen mit Spätzle und Saitenwürstle.

 

Mochten Sie Ihren Job? Oder sehnten Sie sich nach Ihrer Zeit als Dramaturgin im Kinder-und Jugendtheater zurück?

Roth: Das größte Glück meines Lebens ist, dass ich immer genau tun konnte, was ich wollte – mit allen Höhen und Tiefen. Natürlich gab es auch Kämpfe, sogar Existenzkämpfe. Ich mochte meinen Job sehr. Aber die Band hat 1985 gesagt: Es geht nicht mehr. Wir mussten alles Geld zusammenkratzen, um eine neue LP selbst zu finanzieren. Rio gab sein Filmband in Gold bei der Sparkasse ab, damit wir Kredit bekamen. Während BAP und andere Bands schon für Hunderttausende Platten machten. Aber die Scherben wollten sich nicht von der Plattenindustrie korrumpieren lassen. Ich hatte zwei Verträge ausgehandelt, aber die Band lehnte ab. Es war nicht so, dass keine Leute mehr in die Konzerte kamen. Aber während man für BAP-Konzerte klaglos 50 Mark hinlegte, gab es Proteste, wenn die Scherben 15 Mark für eine Karte wollten. Da hieß es gleich: Ihr seid jetzt auch schon Ausbeuter.

 

Vielleicht war die Band einfach ein Phänomen ihrer Zeit?

Roth: Nein. Die Lieder sind nach wie vor aktuell. Die Scherben-Family geht weiter auf Tour – und da sind sogar Kinder der Musiker dabei. Die Musik hat etwas Zeitloses. Und wird ja auch von jungen Bands gecovert. Denken Sie an „Junimond“ von Echt. Zu jedem Anlass gibt es den richtigen Scherben-Song. Das ist der Unterschied zu einer Polit-Rockband. Rio und die Scherben haben einfach schöne Liebeslieder gemacht. „Für immer und dich“ ist einer der größten Liebessongs überhaupt. „Halt dich an deiner Liebe fest“, „Ich will ich sein“ – das sind wunderbare Stücke. Die außerdem, wenn ich mir die Debatte um Ehe für alle ansehe, mega in sind. Da hat sich viel verändert. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass es für Rio in dieser Zeit nicht einfach war zu sagen: Ich bin schwul und ich lebe das offen.

 

Haben Sie noch Platten der Scherben im Schrank?

Roth: Logisch. Ich habe alle Platten. Aber leider keinen Plattenspieler mehr. Im Ernst: Ich höre mir die CDs immer wieder an. Wenn ich früher wichtige Reden vorbereiten musste, suchte ich mir immer einen Song als Leitmotiv. „Mein Name ist Mensch“ ist beispielsweise ein wunderbares Plädoyer für eine vielfältige, bunte Gesellschaft. Die Band hatte einfach viel Power und vermittelte den Leuten: Mischt euch ein. Es ist euer Leben.

 

Inwiefern war die Zeit mit der Band eine gute Vorbereitung auf die Politik?

Roth: Es ist schon mal gut zu wissen, dass es ein Leben vor der Politik gab. Das hilft einem, eine Vorstellung davon zu bekommen, dass es auch ein Leben neben und nach der Politik geben kann. Es kann gefährlich sein, wenn man sein Leben auf eine Karriere in der Politik ausrichtet – und nie mitbekommt, was Leben und auch Überlebenskampf bedeutet. Das Zweite ist, dass ich tatsächlich Reichtum anders definiere. Und das Dritte ist: Ich habe die Gesetze der Bühne kennengelernt. Auch wenn die Scherben als Anarcho-Band galten – Ton und Licht mussten genauso stimmen wie die Performance auf der Bühne. Und ich habe etwas über Rollen und Funktionen gelernt – über den eigenen Wert und wie einem begegnet wird. Denn wenn ich nicht mehr Parteivorsitzende bin oder Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, dann bin ich trotzdem noch Claudia – und Scherben-Fan.

 

Das Gespräch führte

Anja Witzke.

 

Premiere von „Rio Reiser – König von Deutschland“ ist morgen, Donnerstag, 20.30 Uhr, im Turm Baur.

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