München

Geschundene Kreaturen

Simon Stone ist bekannt für radikale Aktualisierungen alter Stoffe – Jetzt zeigt er "Rocco und seine Brüder" in München

15.10.2015 | Stand 02.12.2020, 20:41 Uhr

Wer nicht mit Worten kämpfen kann, kämpft mit Fäusten: Regisseur Simon Stone inszenierte „Rocco und seine Brüder“ mit Samouil Stoyanov und Brigitte Hobmeier (vorne) an den Kammerspielen - Foto: Aurin

München (DK) Größer kann der Kontrast des Premierenpublikums seit der Übernahme der Kammerspiele-Intendanz durch Matthias Lilienthal eigentlich kaum mehr sein. Einerseits – wie seit Jahrzehnten – das Bildungsbürgertum: die Damen in schicken Kostümen und mit dezenten Perlenketten am Hals, die Herren in feinem Zwirn oder Cashmere mit feschen Einstecktüchern.

Doch seit einer Woche allabendlich stark zunehmend die Alternative: Hipster in lässiger Kleidung mit Wollmütze, Kapuzenpulli und cool bis zum Abwinken. Und wo im Foyer des renommierten Schauspielhauses an der Münchner Maximilianstraße bis vor Kurzem Schauspielführer, Dramentexte, Biografien und Fotos von berühmten Theaterautoren und Bühnenkünstlern zu erwerben waren, gibt’s jetzt eine Bar. Statt Sekt-Orange und Martini mit Eis nun das Kultbier aus Tegernsee. Ohne Glas versteht sich, sondern aus der Flasche zu trinken.

Passend dazu die ersten Premieren unter Lilienthals Intendanz: provokativ. Vor allem die Umsetzung von Luchino Viscontis Film „Rocco und seine Brüder“ ist ein Paradebeispiel, wie die langjährigen und treuen Abonnenten, die hehre Schauspielkunst in edlen Inszenierungen, etwa zu Dieter Dorns Glanzzeiten, meist goutieren durften, nun massiv vergrault werden. Denn fast ausschließlich in Fäkalsprache und in der Darstellung roher Gewalt rollt diese Inszenierung von Simon Stone (Jahrgang 1984) über die Bühne: Zwei Stunden lang wird gebrüllt und geprügelt, gekotzt, gerotzt, geschlägert und gekokst – und von allem nicht zu wenig. Zeigte Visconti in seinem Film vom Jahre 1960 ebenso radikal wie einfühlsam den Verfall einer Familie in feindlicher Umwelt, so dürfen sich hier die Darsteller in Dutzenden von ineinanderfließenden, übergrell ausgestellten Szenen in allen Arten von Aggressionen austoben. Die Ursachen all der Frustrationen, die zur brutalen Gewalt von Mutter Rosalias fünf Söhnen und deren Anhang führen, werden in dieser Inszenierung nicht hinterfragt, sondern nur in hyperrealistischer Brutalität ausgewalzt.

Underdogs sind sie alle und bleiben es auch. In die große Stadt sind sie geflüchtet, um einen sozialen Aufstieg zu erreichen. Doch das Leben in Megapolis ist hart und ungerecht. Rocco und seine Brüder müssen sich durch alle Widrigkeiten durchkämpfen, um letztlich doch Loser zu bleiben. Da nützen auch die knochenharten Boxer-Trainingsstunden unter der Aufsicht von geld- und machtgierigen Impresarios und das unbarmherzige Austragen der Konflikte mit den Fäusten nichts mehr.

Wo Viscontis Film eine bittere Anklage gegen die soziale Kälte in einer von Aggressivität und Psychoterror beherrschten Großstadt ist, verlegt sich Simon Stone in seiner Bearbeitung und Inszenierung fast ausschließlich auf brutale Gewalt und Sex. Und neben den nur mittelmäßigen Schauspielern, die Lilienthal von seiner bisherigen Wirkungsstätte, dem Berliner Hebbel-Theater, nach München mitgebracht hat, überzeugt wenigstens Wiebke Puls als ebenso besorgte wie genervte Mutter Rosalia der Chaos-Familie, während Brigitte Hobmeier auch diesmal wieder hinreißend brilliert. Denn der Star der alten Kammerspiele-Garde zeigt hier als Prostituierte alle Facetten ihrer enormen Wandlungsfähigkeit. Mit welch flirrender Erotik sie die Männer bezirzt, die heißblütigen Jünglinge ebenso wie die alten Säcke, wie sie mit verführerischen Blicken und zärtlichen Gesten ihren miesen Liebhabern an die Wäsche geht, um sich in Sekundenschnelle in eine Furie zu verwandeln und letztlich als eine an Körper und Seele geschundene Kreatur im Boxring ihr Leben auszuhauchen, das ist Schauspielkunst der Extraklasse.

Weitere Aufführungen in den Münchner Kammerspielen am 20., 24., 27. und 30. Oktober. Kartentelefon (0 89) 23 39 66 00.

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