(DK)

Das Dorf als Mikrokosmos

Mit "Unterleuten" hat Juli Zeh einen großen Gesellschaftsroman über die wichtigen Fragen unserer Zeit geschrieben

01.04.2016 | Stand 02.12.2020, 20:01 Uhr

Hals über Kopf verliebte sich Juli Zeh in ein kleines Häuschen in Brandenburg. Auch ihr neuer Roman spielt auf dem Land. - Foto: Grube/Imago

(DK) Mit "Unterleuten" präsentiert Juli Zeh ihren bislang umfangreichsten Roman. Die Geschichte eines Dorfes, das mit dem Wandel der Zeit, dem Kapitalismus, aber vor allem mit seinen Bewohnern zu kämpfen hat. Auch zwei Ingolstädter tauchen darin auf: der (fiktive) Unternehmensberater Konrad Meiler, der aus einer Laune heraus viel Land in der Ost-Prignitz erworben hat und dort nun einen Windpark betreiben will. Und der (reale) Buchautor Manfred Gortz. Ein Gespräch über Stadtflucht und die eigenen Dorf-Erfahrungen der 41-jährigen Autorin, die seit 2007 in einer 300-Seelen-Gemeinde in Brandenburg lebt.

Frau Zeh, Sie bezeichnen Ihr neues Buch als "großen Gesellschaftsroman". Ist solch ein Buch mit über 600 Seiten so etwas wie die Königsdisziplin der Schriftstellerei?

Juli Zeh: Für mich schon. Ich lese am allerliebsten Bücher, die nicht nur eine persönliche Geschichte erzählen, sondern darüber hinaus auch etwas über die Epoche oder die Zeit sagen, in der sie handeln. Wenn ich meine Romane der letzten Jahre so anschaue, muss ich sagen, dass ich bei "Unterleuten" mit dem Ergebnis sehr zufrieden bin.

Sie haben fast zehn Jahre an diesem Buch geschrieben. War der ursprüngliche Auslöser Ihr Umzug von Leipzig aufs Land?

Zeh: Ja, das war im Jahr 2007 und ein großer Einschnitt. Ich bin auf dem Land erstmal mit sehr vielen Situationen konfrontiert worden, die mich sehr überrascht haben. Eine völlig andere Welt, in die ich als Städterin eingetaucht bin, und feststellen musste, wie wenig Ahnung ich vom Landleben habe. Als Schriftstellerin verarbeite ich immer eigene Erfahrungen, auch wenn man sich natürlich vieles dazu ausdenkt oder überspitzt.

Wie stark ist heute der Sog bei den urbanen Twentysomethings, raus aufs Land zu ziehen?

Zeh: Für die Twenty- bis hin zu den Fiftysomethings ist das ein Riesentrend, den ich sehr spannend finde. Warum wollen die Leute aufs Dorf? Wovor laufen sie weg? Aus meiner Sicht ist das ganz eindeutig eine Fluchtbewegung. Das ist auch ein Teil dessen, was ich abbilden möchte, dieses Gefühl, dass wir in der heutigen Welt nicht mehr klarkommen, überfordert sind, dass wir raus wollen, es aber kein "raus" mehr gibt.

Warum nicht?

Zeh: Weil die Entwicklung dazu geführt hat, dass Kultur immer flächendeckender wird, das Exotische immer weniger vorhanden ist und der Weltinnenraum langsam zum Gefängnis wird. Man müsste dann schon zum Mond fliegen, damit es wirklich anders aussieht. Mit diesem Gefühl entdecken die Leute dann die Provinz, die neue Exotik, den neuen Fluchtort, die neue Sehnsucht. Auch wenn sie vielleicht nur ein paar Kilometer von der eigenen Haustür entfernt liegt.

Erfüllen sich diese Wünsche und Träume denn, wenn man hinausgezogen ist?

Zeh: Nein, natürlich nicht! Das ist zum Scheitern verurteilt. Leider ist es mit menschlichen Wünschen ja häufig so, dass sie schnell ins Surreale driften. Dann zielen die Wünsche nicht mehr auf einen konkreten Lebensentwurf, sondern auf etwas, was nicht sein kann. Das Verlassen unserer Zeit, unserer Gesellschaft steckt vielleicht dahinter, aber das gibt es natürlich nicht für uns. Und deswegen sind Menschen häufig bitter enttäuscht, wenn sie glauben, sich diese Wünsche dadurch erfüllen zu können, dass sie hinaus aufs Land ziehen.

Wie viel Kritik am Landleben und dessen Verweigerungshaltung gegenüber Veränderungen und Modernisierungen steckt in "Unterleuten"?

Zeh: Ich finde gar nicht, dass man das kritisieren oder loben kann. Es sind einfach Lebensräume und niemand ist dafür kritisierbar, wo er geboren ist oder sich aufhält oder hinzieht. "Unterleuten" beschäftigt sich ganz stark mit der Frage, was Menschen motiviert, wie die einzelnen Figuren drauf sind, die dort aufeinandertreffen. Es ging mir darum, einen Spiegel zu erschaffen, in dem man vielleicht etwas erkennen kann, anstatt zu sagen: Ihr macht etwas falsch!

Braucht es heute viel Zuzug, damit Dörfer in Ost- wie Westdeutschland nicht irgendwann leerstehen?

Zeh: Objektiv betrachtet ist die Lage verheerend. Ich wundere mich immer noch, dass die Politik das hartnäckig ignoriert. Hier gäbe es so viel Wichtiges zu tun und zu verändern, damit die Region nicht völlig entvölkert wird und sich am Ende selbst überlassen bleibt. Es entstehen anarchische Strukturen, wie auch im Buch thematisiert, wenn die Leute sich fragen, warum sie sich eigentlich noch für den Staat interessieren sollten, wo er sich doch eh nicht um ihre Belange kümmert. Es bräuchte in ländlichen Gegenden ernst gemeinte Infrastrukturmaßnahmen. Wir haben kaum noch Ärzte hier, es gibt zu wenig Schulen, Kindergärten sind von der Schließung bedroht. Wenn man das den Leuten wegnimmt, können sie irgendwann einfach nicht mehr auf dem Land wohnen.

Können Sie Beispiele aus Ihrer eigenen Erfahrung nennen?

Zeh: Unser Kindergarten sollte vor ein paar Jahren geschlossen werden, was wir mit einer Protestaktion verhindern konnten, und weil sich letztlich doch ein Träger gefunden hat. Die ärztliche Versorgung ist auch besorgniserregend. Man muss teilweise sehr weit fahren, um einen Arzt zu finden, der einen behandeln kann.

Aber man kann sich damit arrangieren ...

Zeh: ... naja, vor allem wenn man jung ist, Geld und ein Auto hat. Ich bewundere es total, wie die Leute das hier aber auch ohne diese Voraussetzungen schaffen. Es ist eine arme Region, die Leute in der Nachbarschaft haben teilweise derart wenig Geld zur Verfügung, das kann sich ein Städter in Berlin, der glaubt, er wäre arm, wahrscheinlich nicht vorstellen. Aber alle helfen sich gegenseitig. Das ist toll, weil es natürlich zusammenschweißt und ein gesundes Sozialleben schafft.

Sind Flüchtlingskrise, Ausländerfeindlichkeit und Europapolitik ein Thema bei Ihnen im Dorf?

Zeh: Ein konkretes Thema ist das im Dorf nicht. Das würde sich aber in dem Moment ändern, wenn im Umkreis von wenigen Kilometern Flüchtlinge angesiedelt werden sollten.

Wie würde das Dorf "Unterleuten" im Buch damit umgehen?

Zeh: In "Unterleuten" ist ja das Thema Windkraftanlage die große Bedrohung. Eine Windkraftanlage und ein Flüchtlingsheim kann man jetzt vielleicht nicht qualitativ vergleichen. Wenn man es strukturell betrachtet, sind es aber einfach zwei Sachen, die den Leuten vor die Nase gesetzt werden. Ohne dass man sie fragt, ob sie das wollen und ohne dass man sich dafür interessiert, was für Ängste das auslöst und welche gefühlten oder echten Nachteile daraus vielleicht entstehen. Wenn man dafür aber das Gespräch sucht, könnte mein Dorf diese sogenannte Integrationsleistung aufbringen, glaube ich. Platz hätten wir, es gibt genug Leerstand, dafür müsste man keine Heime bauen. Was man nicht machen darf, ist, den Leuten einfach unkommentiert etwas hinzuknallen.

Haben Sie jemals mit dem Gedanken gespielt, noch weiter wegzuziehen, vielleicht sogar auszuwandern?

Zeh: Ja, ich hatte solche Fluchtgedanken, vor anderthalb Jahren ganz massiv. Da hatte ich, vielleicht auch aufgrund von zu viel politischem Engagement, einen Punkt erreicht, an dem ich so erschöpft war und bereit, dem Land den Rücken zu kehren und ganz woanders hinzuziehen, weil es mir einfach egal war. Das entspricht aber letztlich nicht meinem Charakter und außerdem liebe ich Deutschland. Ich bin immer mal wieder gerne weg, aber kann mir tatsächlich nicht vorstellen auszuwandern.

Das Interview führte

Klaas Tigchelaar.

Juli Zeh: Unterleuten, Luchterhand, 640 Seiten, 24,99 Euro.

URL: https://www.donaukurier.de/archiv/das-dorf-als-mikrokosmos-3761461
© 2024 Donaukurier.de