Augsburg

Ganz großes Kino

Film ab: Das Theater Augsburg zeigt einen spektakulären "Platonow" auf der Bühne und auf der Leinwand

20.05.2016 | Stand 02.12.2020, 19:47 Uhr

Theaterspiel vor der Leinwand: Szene mit Lea Sophie Salfeld, und Christoph Bornmüller. - Foto: Schaefer

Augsburg (DK) Gelungen, unterhaltsam, klug, pointiert oder spannend - das sind nur einige der Adjektive, die im standardisierten Kanon für Theaterkritiken regelmäßig Verwendung finden. Christian Weises Version von Anton Tschechows "Platonow" am Theater Augsburg ist all das, benötigt aber dringend eine Erweiterung des Vokabulars.

Sie ist total abgedreht, schrill und vor allem: vogelwild.

Im Mittelpunkt steht der namensgebende Platonow, der sich im Studium noch zu Höherem berufen sah, sich dann aber als Dorflehrer wiederfindet. Gefangen im Sog des unerträglichen Lebens auf dem russischen Land, ist er zugleich der Einzige einer degenerierten Gesellschaft, der imstande ist, hinter die Fassaden zu blicken. Die Frauen spüren das in Scharen, gleich vier fühlen sich zu dem verheirateten Mann hingezogen, werden von seinem mal jungenhaften, mal intellektuellen, mal morbiden Charme angezogen. Das Drama ist ein Früh-, fast eher noch ein Jugendwerk Tschechows, das vom Moskauer Theater 1880 vielleicht nicht einmal zu Unrecht abgelehnt worden war. Über sieben Stunden hätte die Aufführung des Stücks gedauert, diverse Nebenhandlungen mit einer Vielzahl von Figuren und versprengte Szenen hätten das Publikum strapaziert.

Regisseur Christian Weise macht aus dieser Not eine Tugend. Gerade weil die Vorlage nicht perfekt sei, habe er die Freiheit verspürt, aus der Fülle des Materials die Geschichte auszuwählen, die er erzählen wolle, erklärt Weise im Programmheft. Er habe sofort einen Woody-Allen-Typ vor Augen gehabt - und er hat ihn gefunden: Christoph Bornmüller ist der grandiose schauspielerische Dreh- und Angelpunkt einer Inszenierung, die wie kaum eine zweite ihren Schauspielern auf die Pelle rückt. Denn zum Einsatz kommen mehrere Kameras. Ohne die geht an dem Abend nichts: Ein nicht unerheblicher Teil des Geschehens spielt sich auf rückwärtigen Teilen der Drehbühne von Martin Miotk ab, teils sogar hinter den Vorhängen und am späteren Abend auch auf den Fluren, im Treppenhaus und der Garderobe, während - das bedauerlicherweise eher spärliche und nach der Pause weiter ausgedünnte Publikum - brav im Parkett und auf den Rängen sitzt und auf eine Leinwand schaut. Über weite Strecken ist die Aufführung deshalb mehr Kino als Theater mit ausbalancierten Bildzuschnitten.

Auch der Rest des Ensembles ist in absoluter Bestform bei der Darstellung der grotesk überzeichneten Figuren: Lea Sophie Salfeld fiept und wispert steinerweichend in einer Puderzucker-Rolle, von der man beim Zusehen schon zunimmt. Kerstin König schielt und lispelt, dass der Kinderfilm neu erfunden werden sollte, und Gregor Trakis' irrer Blick kommt direkt aus dem Horrorgenre. Wie überhaupt kaum ein Filmgenre an dem Abend außen vor bleibt: Der zweite Teil des Abends beginnt mit einem Vorspann in bester "Fackeln im Sturm"-Manier, Grusel-, Kitsch- oder Stummfilm - alles kommt zu seinem Recht.

Aber was hat dieser dreieinhalb Stunden reine Spielzeit umfassende Parforceritt, bei dem ein Einfall den nächsten jagt, mit Tschechow und seinem "Platonow" zu tun? Mehr als man meinen sollte. Durch all den Witz und die Groteske schimmern wieder und wieder jene ernsten Momente durch, die im "Platonow" schon vorhanden, aber erst in Tschechows späteren Werken wirklich prägnant ausgestaltet sind. Die Themen und Gefühle, die auch in einem Großteil der Werke anderer russischer Schriftsteller vergangener Jahrhunderte vorhanden sind: der Ennui des abgeschotteten, kargen Lebens, der Ehebruch als nie funktionierender Rettungsanker, Verzweiflungstaten aus finanzieller Not, die Betäubung durch Alkohol und der einzige Ausweg aus alledem: sterben. Eine Entwicklung, die durch viel Dekonstruktion gezeigt wird. Die Kameramänner laufen mitten über die Bühne, Perücken werden abgenommen, das Bühnenbild umgeworfen. Man kann kaum anders, als daran denken, dass die Augsburger derzeit ihr Theater in einer eskalierenden Debatte um die Sanierung selbst dekonstruieren. Ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt, ist dieser Abend ein simpler, aber schlagender Beitrag zu dieser Diskussion: Lasst sie einfach spielen!

Das Ensemble jedenfalls überschlägt sich in Spielfreude. Obwohl viel Slapstick gezeigt wird, bleibt der Witz stringent und intelligent. Die aberwitzige Inszenierung gelingt ohne jeden Spannungsabfall und ohne Ermüdungserscheinung. Im wahrsten Sinne des Wortes: Ganz großes Kino.

URL: https://www.donaukurier.de/archiv/ganz-grosses-kino-3737611
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