Pfaffenhofen

"Ein bisschen Blut gehört dazu"

Die Pfaffenhofenerin Gertraud Oberloher kämpft trotz ihrer schweren Erkrankung weiter

19.04.2016 | Stand 02.12.2020, 19:56 Uhr

Wenn andere treten, schlägt sie zu: Rollstuhlfahrerin Gertraud Oberloher meldete sich nach ihrer Erkrankung beim Taekwon-Do an. - Foto: Brenner

Pfaffenhofen (SZ) Als Gertraud Oberloher vor etwa zehn Jahren am Rückenmark erkrankte, wusste sie, dass sich ihr Leben für immer verändern würde. Doch statt aufzugeben, meldete sie sich beim Kampfsport an. Heute hat sie trotz Rollstuhl den gelb-grünen Gürtel und arbeitet als Schichtleiterin bei Ilios.

Wenn Taekwon-Do-Trainer Michael Öruc zum Schlag ansetzt, macht er keine Kompromisse. Im Sekundentakt kommen die Fäuste auf die Frau im Rollstuhl zu, so dass der unbeteiligte Betrachter am liebsten aufspringen und die Frau verteidigen will. Doch Gertraud Oberloher braucht keinen Verteidiger. Die robuste Pfaffenhofenerin hat einen festen, zielgerichteten Schlag, mit dem sie alle Angriffe abwehren kann.

Seit November 2014 ist sie Schülerin des traditionellen Taekwon-Do, bei dem die Tritte und Schläge zwar nie den Körper des Gegners berühren. Doch bei Prüfungen müssen schon mal Dachziegel zerschlagen werden. Diesen Sport wählte die Rollstuhlfahrerin als Herausforderung - eine mehr, die sie in ihrem Leben meistert.

Denn 2005 verändert eine Krankheit ihr Leben. "Ich habe immer so ein Kribbeln in Händen und Füßen gespürt", sagt Oberloher. Die Ärzte sagen ihr, sie habe eine Nervenerkrankung, die durch eine Magenschleimhautentzündung ausgelöst wurde. Doch was genau sie hat, wissen die Ärzte nicht, sagt die 45-Jährige. "Lange Zeit dachten sie, es sei multiple Sklerose, weil ich Lähmungen an Händen und Füßen hatte." Erst 2011 steht die seltene Diagnose, die zumindest wahrscheinlich sei: Funikuläre Myelose, eine Erkrankung des Rückenmarks. "Bei mir wird das Vitamin B 12 nicht mehr vom Magen in das Rückemark weitergereicht", sagt sie, es klingt sachlich, so als würde sie eine Matheformel erklären. Es bedeutet, dass sie nie wieder wird laufen können. "Wenn das Rückenmark kaputt ist, dann ist es kaputt." Sie zuckt mit den Schultern. Nach der Diagnose musste Oberloher ihre Arbeit in einer Wirtschaft beenden. Kurz darauf geschah das für sie Unerklärliche: Sie wurde schwanger. "Die Ärzte hatten mir 1995 gesagt, dass ich wegen Unterleibsoperationen nicht schwanger werden kann", erklärt sie. Für sie war die Zeit nach der Entdeckung der Schwangerschaft schlimmer als ihre Erkrankung: "Die war ja schleichend. Doch jetzt ging es um Leben und Tod, und ich musste mich schnell entscheiden." Denn die Ärzte waren sich zunächst nicht sicher, wie gefährlich es für sie werden würde, ein Kind zu gebären. "Ich wollte niemals abtreiben. Das wäre für mich schlimm gewesen." Umso größer war ihre Freude, als die Ärzte erklärten, die Geburt sei möglich. Drei Wochen früher als geplant kam das Kind zur Welt, ein Mädchen, hatte man ihr vorher gesagt. Nach der Geburt zeigte ihr die Hebamme das Kind und fragte, wie ihr Sohn heißen sollte. "Phillip war mein erster Gedanke. Und so heißt er auch."

Inzwischen ist Phillip neun Jahre alt und trainiert mit seiner Mutter Takwon-Do im Gebäude von Ilios in Pfaffenhofen, wo Oberloher 2012 nach siebenjähriger Pause auch wieder einen Job fand. Als Ein-Euro-Jobberin verpackte sie Waren und bezog wie vorher Hartz IV. Mittlerweile ist sie aufgestiegen: Als Schichtleiterin verdient sie etwa 1550 Euro Brutto für 30 Stunden Arbeit die Woche. "Der Job wird über den Europäischen Sozialfonds gefördert", sagt Peter Kundinger, Sprecher der Agentur für Arbeit in Ingolstadt. Den Rest bezahle das Jobcenter und Ilios. Oberloher ist nun dafür verantwortlich, dass der Kunde rechtzeitig die Ware bekommt. Sie macht Bestellungen und organisiert, wer wann was zu tun hat. Die Aufgabe gefällt ihr, weil es wie der Kampfsport eine Herausforderung ist.

Beim Taekwon-Do will sie so weit kommen wie möglich. Ihr Trainer glaubt daran: "Wenn jemand Traudl angreift, dann hat sie die Überraschung auf ihrer Seite", sagt er. "Niemand erwartet viel von einer Rollstuhlfahrerin. Und dann sind sie ganz überrascht." Eine Sonderrolle bekommt sie beim Training nicht. "Sie macht dasselbe wie alle. Wenn wir Fußübungen machen, dann boxt sie eben."

Die Dachziegel sehen stabil aus. Oberlohers Blick ist starr auf sie gerichtet, dann packt sie den Kopf ihres Trainers, zieht ihn runter auf die Ziegel, deutet einen Schlag an, dann ist sein Kopf wieder weg und Oberloher stößt einen Kampfruf aus. Sie holt weit aus und zielt, doch die Ziegel zerbersten nicht. Oberloher schwitzt, ihr Kopf ist rot, doch sonst bleibt sie ruhig. "Konzentrier dich", mahnt ihr Trainer. Sie nickt und greift wieder an. Diesmal kracht es, die Ziegel zerbersten. Ein Lächeln, nur kurz, dann nickt sie zufrieden. Blut läuft ihr über die Knöchel. "Ich hole schnell ein Pflaster", sagt ein Kollege. "Nein, lass ruhig", sagt Oberloher. "Ein bisschen Blut gehört dazu."

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