Ingolstadt

Verliebt in Lämmchen

Großer Jubel für "Kleiner Mann - was nun?" am Stadttheater Ingolstadt

03.02.2019 | Stand 23.09.2023, 5:51 Uhr
Kein Zufluchtsort: Pinneberg (Marc Simon Delfs) und Lämmchen (Mira Fajfer) haben mit Mutter Mia (Victoria Voss) Probleme. −Foto: Klenk

Ingolstadt (DK) Was für ein reizendes Paar - Pinneberg und sein Lämmchen. Jung - 23, 22 -, verliebt und schwanger. Und das in diesen Zeiten. Weltwirtschaftskrise. Inflation. Massenarbeitslosigkeit. Sie heiraten trotzdem. Dann ist der Job in Ducherow weg, und sie versuchen ihr Glück in Berlin. Sie kommen bei Pinnebergs Mutter unter, über Beziehungen ergattert Pinneberg eine Arbeit im Warenhaus Mandel, der "Murkel" kommt zur Welt, aber die elende Rechnerei hört nicht auf.

Als es im Unternehmen Rationalisierungen gibt und Verkaufsquoten eingeführt werden, erhöht das den Druck auf alle Angestellten. Der Konkurrenzkampf wird härter, die Angst vor dem sozialen Abstieg beherrscht das Denken, während draußen schon harte Absätze im Stechschritt auf der demokratischen Ordnung herumtrampeln. Pinneberg hält sich raus aus der Politik. Doch bald ist sie tatsächlich da - die fristlose Kündigung. Und mit ihr der Verlust der Selbstachtung. Allein Lämmchen sorgt dafür, dass Pinneberg nicht unter die Räder kommt. Nicht nur, weil sie mit Näharbeiten die kleine Familie mehr schlecht als recht durchbringt. Sondern vor allem, weil sie ihm in unerschütterlicher Liebe stets eine Stütze bleibt.

Als Hans Falladas Roman "Kleiner Mann - was nun?" 1932 erschien - Hitlers Machtergreifung stand unmittelbar bevor -, wurde er sofort zum Erfolg. Volksnah, realistisch, detailversessen: Fallada hatte den Nerv der Zeit getroffen. Viele erkannten sich in Pinneberg wieder, in seinen existenziellen Nöten, in dieser Enge und Hoffnungslosigkeit, im alltäglichen Überlebenskampf, viele sind ergriffen von dieser märchenhaften Liebesgeschichte, die allen Widrigkeiten standhält - und alle sind verliebt in Lämmchen. So einen Kult um eine literarische Figur hatte es zuletzt bei Goethes Lotte gegeben. Das Publikum will "Lämmchenbücher". Denn auch wenn Falladas Romantitel vom "Kleinen Mann" sprichwörtlich werden wird, der eigentliche Protagonist ist diese starke Frau.

Brit Bartkowiak hat Falladas 550-Seiten-Roman nun auf die große Bühne des Stadttheaters Ingolstadt gebracht - und dafür die Fassung von Luk Perceval gewählt, die klug Spiel- und Erzählsequenzen mischt und einen formidablen Einblick in die Sprachkraft Falladas gibt. Gute vier Stunden dauerte seine Inszenierung an den Münchner Kammerspielen 2009. Die Ingolstädter Produktion ist eine Stunde kürzer. Und sie ist phänomenal. Weil sie der literarischen Vorlage Rechnung trägt, gleichzeitig einen scharfsichtigen Kommentar zur Gegenwart abliefert und die Liebesgeschichte inmitten der wirtschaftlichen Krise und des erstarkenden Nationalsozialismus in einer zauberhaften Theatralik auf die Bühne tupft.

Und dieses Paar! Marc Simon Delfs und Mira Fajfer sind Pinneberg und Lämmchen. Und sie sind so jung, so wahrhaftig, so sehnsuchtsvoll, so modern, aber auch gefangen in den Konventionen der Zeit, so voller Lebenslust und doch so verzweifelt angesichts der Zumutungen des Alltags, so innig, aber auch so zerbrechlich, dass einem das Herz aufgeht, wenn man ihnen beim Spielen zusieht.

Um sie herum hat Regisseurin Brit Bartkowiak als eine Art Chor der Gesellschaft sieben weitere Akteure gruppiert, die in all die anderen Figuren aus Falladas Universum schlüpfen - von der gespenstischen Zimmerwirtin in Ducherow über den dubiosen Jachmann bis zum unerbittlichen Unternehmensberater Spannfuß. Dabei befinden sich alle Schauspieler auf der hölzernen Tribüne, die Hella Prokoph vis-à-vis des Zuschauerraums ins Große Haus gebaut hat, verfolgen als Publikum interessiert das Geschehen, knüpfen den Erzählfaden weiter, tauchen in ihre Rollen, kommentieren politisch unkorrekte Bemerkungen oder eilen Lämmchen im Streit mit Pinneberg zu Hilfe. Auch die musikalische Seite des Abends liegt ganz in ihren Händen. Joe Masi hat Musik im Stile der 20er-Jahre komponiert, großstädtische Vergnüngungshymnen, Elegantes, Swingendes, Tanzbares - und all das wird live gespielt (Schlagzeug, Klavier, Bass, singende Säge) und gesungen. Als Hingucker dazu: Carolin Schogs Kostüme und Stefano di Buduos atmosphärische Schwarz-Weiß-Video-Einspielungen.

Die riesige Leinwand, die das Bühnenpodest krönt, dient aber nicht nur diesem praktischen Zweck, sondern ist auch Verweis darauf, dass Pinneberg und Lämmchen zwei fensterlose Zimmer hinter einem Kino bewohnen. Ein heimeliges Nest im Moloch Berlin. Ein Ort mit großer Symbolkraft. Denn das Kino steht mit seinen Glücksverheißungen von Liebe, Geld und Unbeschwertheit für all die Sehnsüchte, die den Pinnebergs im bloßen Existenzkampf verwehrt bleiben. Mit Pinnebergs Entlassung reißt die Leinwand. Aus der Traum.

Es gibt viel zu entdecken in Brit Bartkowiaks komödiantischer und höchst anrührenden Inszenierung. Aber der Clou sind doch die Schauspieler. Im Zentrum natürlich Marc Simon Delfs und Mira Fajfer. Doch auch der Rest des Ensembles spielt punktgenau. Aus noch so kleinen Rollen zaubern sie Skurriles und Überraschendes: Victoria Voss als Pinnebergs Mutter - eine verruchte, armselige Salonlöwin. Olaf Danner als zynischer Managementstratege und Menschenschinder. Jan Gebauer als jovialer Kleinkrimineller Jachmann. Richard Putzinger als zickiges Bürofräulein Semmler. Peter Reisser darf mal schnöselig sein, mal loyal, Sascha Römisch als müder Doktor und eilfertiger Nazi agieren, Renate Knollmann mimt die Femme fatale wie das verzogene Gör. Ihre Körper sind ihnen Spielmaterial genug. Wenn sie sich klein machen, buckeln in Dauerspannung oder sich durch den Bühnenbau winden - dann sagt das mehr als viele Worte.

"Kleiner Mann - was nun?" ist eine Geschichte ohne Happy End. Aber eine, die nachhallt. Am Ende gibt es dafür langen Applaus.

ZUM STÜCK
Theater:
Großes Haus Ingolstadt
Regie:
Brit Bartkowiak
Bühne:
Hella Prokoph
Kostüme:
Carolin Schogs
Musik:
Joe Masi
Läuft bis:
10. April, Einführungen eine halbe Stunde vor jeder Vorstellung
Kartentelefon:
(0841) 30547200
 

Anja Witzke

URL: https://www.donaukurier.de/archiv/verliebt-in-laemmchen-2771970
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