Ingolstadt

Caritas warnt: "Prekarisierung von Arbeit"

Alarmierende Zahlen im neuen Bericht der Schuldnerberatung - Krisensignale von Automobil-Zulieferern

11.06.2019 | Stand 02.12.2020, 13:46 Uhr
"In der Beratungspraxis erleben wir eine Zunahme von Schulden bei Onlinebestellungen. Amazon oder der Bezahldienst PayPal gehören vor allen bei jüngeren Menschen oft zu den Gläubigern", sagt Bernhard Gruber von der Ingolstädter Caritas. −Foto: Kaiser/dpa

Ingolstadt (DK) In der mit Erfolgsmeldungen gepflasterten Stadt Ingolstadt wirkt er jedes Jahr wie ein mahnendes Zeugnis, das nicht recht ins Bild der viel beschworenen Boomtown passen will: Der Bericht der Schuldner- und Insolvenzberatung der Caritas-Kreisstelle in Ingolstadt.

Dessen Verfasser Bernhard Gruber weist auf Besorgnis erregende Entwicklungen und Signale hin. Allem voran: "Eine hohe Überschuldung trotz noch guter wirtschaftlicher Lage. " Die Überschuldung werde sogar noch steigen, sagt der erfahrene Berater, "vor allem im Bereich der Beschäftigten in der Autoindustrie und bei den Zulieferern. Erste Anzeichen nehmen wir bereits wahr. "

Flüchtlinge und EU-Bürger macht Gruber als weitere wachsende Zielgruppe in der (freiwilligen) Beratung der Caritas aus. Und diesen Trend: "Onlinekäufe erhöhen das Verschuldungsrisiko, Stichworte Amazon und Paypal. " Gruber betont zudem: "Existenzsicherung wird immer wichtiger. " Also vor allem die Posten Miete, Strom und Konto. "Große Sorgen macht uns das Delegieren der Insolvenzberatung auf die Kommunen, in unserem Fall die Stadt Ingolstadt, weil dadurch unsere Qualitätsstandards möglicherweise ,ausgehöhlt' werden", sagt der Caritas-Mitarbeiter.

Seine neuen Zahlen im Überblick. Zunächst die Situation auf Bundesebene: Laut Schuldneratlas 2018 der Creditreform sind derzeit 6,9 Millionen Bundesbürger über 18 Jahren überschuldet. Das heißt, diese Menschen können nach Abzug der Lebenshaltungskosten ihren Verbindlichkeiten nicht mehr nachkommen. Dies entspricht 10 Prozent der Gesamtbevölkerung. Jeder zehnte Bundesbürger über 18 Jahre ist damit zahlungsunfähig, wobei diese Zahl der Caritas-Berater zufolge um 19000 zugenommen hat - und dies in Zeiten eines noch stabilen Wirtschaftswachstums. "Wir befürchten in den nächsten Jahren eine weitere Zunahme überschuldeter Menschen. Die ersten Anzeichen sind auch bereits in der Region Ingolstadt sichtbar, wie die Situation bei Audi zeigt. Hiervon sind auch die Zulieferer und Leiharbeitsfirmen betroffen. "

Im Jahr 2018 verzeichnete die Caritas-Kreisstelle Ingolstadt in der Sozialberatung für Schuldner insgesamt 512 Beratungsfälle. Davon waren 58 Prozent Kurzzeitberatungen (bis 2 Mal) und ca. 42 Prozent Langzeitberatungen (ab drei Beratungsgesprächen). 52,7 Prozent der Rat Suchenden waren männlich, 47,3 Prozent weiblich. In insgesamt 48,4 Prozent aller Haushalte lebten unterhaltspflichtige Kinder.

Folgende Altersstruktur der von der Caritas beratenen Bürger trat auf: bis 25 Jahre: 7,8 Prozent; 26 bis 39 Jahre: 44,2 Prozent; 40 bis 59 Jahre: 38,7 Prozent; ab 60 Jahre: 9,3 Prozent.

Dazu Gruber: "Wir stellen eine leichte Erhöhung der Beratungsfälle von jungen Menschen bis 25 Jahre fest. " Dies sei unter anderem auf die von Unternehmen geschaffenen Konsumanreize zurückzuführen. Er nennt hier 0-Prozent-Finanzierungen, verzögerte Ratenzahlungen, Probeabos und ähnliches. Den gleichen Effekt hätten die hohen Disporahmen, Konsumkredite, Hochrisiko-Kredite und weitere Angebote der Kreditinstitute. "Diese führen nicht selten in Verbindung mit einer mangelnden Übersicht über die eigenen Finanzen und einem Leben auf ,Pump' zur Zahlungsunfähigkeit. In der Beratungspraxis erleben wir eine Zunahme von Schulden bei Onlinebestellungen. Amazon oder der Bezahldienst PayPal gehören vor allen bei jüngeren Menschen oft zu den Gläubigern. "

Besonders kritisch sieht die Caritas die Prekarisierung von Arbeit. "Beschäftigungsverhältnisse werden zunehmend befristet und besonders in der Industrie ist weiterhin eine zunehmende Tendenz zur Leih- bzw. Zeitarbeit zu beobachten. "
Weiterhin stark von Überschuldung betroffen sind die Altersgruppen der 26- bis 39-Jährigen (44,2 Prozent) bzw. der 40- bis 59-Jährigen (38,7 Prozent). "Gerade in diesen Altersgruppen sind Trennung oder Scheidung, Krankheit und Jobverlust die häufigsten Ursachen für eine Überschuldung. "

Ein über Jahre vermeintlich gut funktionierendes Konstrukt aus hohem Lebensstandard in Verbindung mit steigenden Lebenshaltungskosten und zu knapp bemessenen Rücklagen "wird in vielen Fällen durch unvorhersehbare Ereignisse ins Wanken gebracht", heißt es. Einkommenseinbußen oder -ausfälle können dann oft nur zeitweise kompensiert werden, und langfristige Zahlungsverpflichtungen sind dann nicht mehr zu erfüllen. "

Mit 55,2 Prozent ist der Anteil der Hilfesuchenden mit Migrationshintergrund weiter tendenziell steigend. Die im Jahresbericht für 2017 erwähnte neue "Zielgruppe" der Flüchtlinge führe zu einem erneuten Anstieg der Fallzahlen für Klienten mit Migrationshintergrund. "Dabei arbeiten wir eng mit der Flüchtlingsberatung zusammen. Es kommt deutlich zum Ausdruck, dass ein Teil der Flüchtlinge finanziell sehr unerfahren ist und sie deshalb leicht in eine finanzielle Schieflage geraten. Hier ist viel Aufklärungsarbeit notwendig, welche jedoch durch teils erhebliche sprachliche Defizite der Klienten enorm an Wirkung einbüßt", berichtet Gruber.

Neben der Existenzsicherung ist deshalb die Haushaltsplanung ein wichtiger Bestandteil der Beratung. "Inzwischen wenden sich auch viele EU-Bürger an uns, die in der Regel nicht in gesicherten Arbeitsverhältnissen stehen oder im Niedriglohnsektor angestellt sind. "

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