Ingolstadt

Die Wut auf das System

Simon Dworaczek inszeniert "Furor" im Ingolstädter Studio

26.11.2019 | Stand 23.09.2023, 9:39 Uhr
Simon Dworaczek: "Mich hat vor allem das Ausgeliefertsein der Figuren interessiert." −Foto: Peller

Ingolstadt (DK) Ausgerechnet in der heißen Phase seines Wahlkampfs um das Amt zum OB wird Ministerialdirigent Heiko Braubach in einen Verkehrsunfall verwickelt.

Der Junkie war ihm direkt vors Auto gelaufen, er hatte keine Chance auszuweichen. Jetzt wird der Junge vermutlich sein Leben lang an den Rollstuhl gefesselt sein. Braubach sucht seine Mutter auf, die als Altenpflegerin jeden Cent zweimal umdrehen muss und bietet ihr Unterstützung an. Hier trifft er auf ihren Neffen Jerome, der für wenig Geld als Paketbote schuftet, sich als Abgehängter der Gesellschaft sieht und jetzt eine Chance wittert, die verhasste politische Elite zur Rechenschaft zu ziehen. Im Netz kursieren Gerüchte: War der Politiker zu schnell unterwegs? Oder sogar betrunken? Jerome erpresst Braubach: Kurz vor seiner OB-Kandidatur könnten ihm solche Schlagzeilen schaden. Doch der Politiker ist seit 30 Jahren im Geschäft und lässt sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen - ein Schlagabtausch entwickelt sich. Plötzlich hat Jerome ein Messer in der Hand, mit dem er den Politiker bedroht.

"Furor" haben Lutz Hübner und Sarah Nemitz ihr Stück genannt, in dem sie der Frage nachgehen, wie demokratische Werte in unserer Gesellschaft erodieren und was politisches Handeln kompromittiert. Simon Dworaczek bringt das Stück auf die Ingolstädter Studiobühne. Am Freitagabend ist Premiere - mit Jan Gebauer in der Rolle des Politikers Braubach, Victoria Voss als Mutter und Jan Beller als Jerome.

Gerade mal 26 Jahre ist Simon Dworaczek - und doch hat er schon jede Menge Erfahrungen im Bereich Theater gesammelt. Schon mit 13 Jahren hatte er seinen Berufswunsch klar formuliert. "Ich stottere seit meiner Kindheit - aber nicht, wenn ich auf der Bühne stehe. Deshalb war ich immer in irgendwelchen AGs. Dann habe ich selbst ein Stück geschrieben, meine Kumpel zusammengetrommelt, Sponsoren gesucht, einen Raum aufgetrieben und parallel am Apollo-Theater ein Praktikum absolviert", erzählt Simon Dworaczek.

Das Apollo-Theater in Siegen ist ein Bespieltheater, in dem Bühnen wie das Deutsche Theater Berlin, das Gorki Theater oder die Münchner Kammerspiele zu Gast sind. Und hier lernte Simon Dworaczek nicht nur spannende Theatermacher kennen, sondern arbeitete auch in vielen Bereichen mit. Schnell war ihm klar: Das will ich machen. Mit 19 Jahren begann er ein Regiestudium am Wiener Max-Reinhardt-Seminar und setzte sich in seiner Abschlussarbeit mit dem Stottern auseinander. "Ich bin mein Leben lang ins Theater geflüchtet und wollte mich dem endlich stellen. Ein Prozent der Menschheit stottert, egal in welchem Kulturkreis. Schon Aristoteles hat darüber Aufsätze verfasst. Man weiß aber immer noch nicht, woher es kommt. In meiner Inszenierung ,Frei heraus' habe ich versucht, die Welt aus dem Blickwinkel eines stotternden Menschen zu erzählen und dem Publikum die Möglichkeit zu geben, in diese Gefühlswelt einzutauchen. " Nach seinem Abschluss zog er nach Salzburg um und wohnt nun vis-à-vis von Mozarts Geburtshaus in der Getreidegasse. "Die Altstadt in Salzburg ist groß, aber hier leben nur wenige Menschen. Das meiste sind Geschäfte, Lokale oder Ferienwohnungen von Leuten, die nur zur Festspielzeit kommen. Es fühlt sich also ein bisschen wie im Museum an. Und morgens und abends hat man diese Kulisse ganz für sich allein. "

Seit 2018 arbeitet Simon Dworaczek frei und erforscht daneben in seiner Doktorarbeit, wie man theatrale Prozesse für Lösungsentwicklungen in Wissenschaft, Wirtschaft und Bildung nutzen kann. "Ich habe dazu ein Verfahren entwickelt, das ich seit zwei Jahren in einem Unternehmen teste", erzählt er.

Und: Er inszeniert - wie gerade "Furor" in Ingolstadt. "Mich haben vor allem die Figuren interessiert, das Ausgeliefertsein", erklärt er. "Ich wollte verstehen, wie Radikalität funktioniert. Ich wollte nicht über die Figuren urteilen, sondern dem Publikum ermöglichen, sie zu verstehen. Dazu müssen die Figuren so schillernd sein, dass man nicht weiß, wer gut und wer böse ist. " Darüber hinaus geht es um eine gesellschaftliche Diagnose. Das Stück stammt aus dem vergangenen Jahr. "Wir haben uns gefragt, ob und wie es sich seither verändert hat" - nach dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke durch einen Rechtsextremisten oder dem Terroranschlag von Halle, bei dem sich der Täter im Netz radikalisierte.

Und was soll das Publikum von diesem Abend mitnehmen? Simon Dworaczek: "Im besten Fall sind die Sinne und Gedanken nach dem Abend geschärft. Im besten Fall wächst der Drang, darüber zu diskutieren. "

Premiere ist am Freitag, 29. November, um 20 Uhr im Studio. Kartentelefon (0841) 30547200.

Anja Witzke

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