Wenn das wichtige Medikament vergriffen ist

07.04.2020 | Stand 23.09.2023, 11:32 Uhr
Schutzkleidung fehlt in vielen Arztpraxen und Pflegeheimen. −Foto: Gentsch, dpa

Lieferschwierigkeiten bei Arzneimitteln gibt es seit Jahren. Die Corona-Krise verschärft diese Engpässe noch. Ein Apotheker und ein Arzt aus Ingolstadt erzählen von den Schwierigkeiten und hoffen, dass die Politik aus der Epidemie die richtigen Schlüsse zieht.

 

Ingolstadt - Neu ist das Problem nicht: Lieferengpässe bei Medikamenten in Deutschland gibt es unabhängig von der Corona-Krise seit Jahren. Sie verdoppelten sich 2019 auf 18 Millionen Packungen nach 9,3 Millionen im Vorjahr, berichtet der Apothekerverband ABDA. Die Corona-Krise verschärft nun die Lage. Ein wesentlicher Grund: Europa ist von Importen aus Indien und China abhängig und die fallen derzeit zumindest in Teilen aus.

"Wir haben in der westlichen Welt eigentlich keine Wirkstoffproduktion mehr, sondern beziehen sie von Zulieferern aus dem asiatischen Raum", sagt Christian Pacher, Apotheker und Sprecher der Ingolstädter Apotheken. "Viele Hersteller sitzen zum Beispiel direkt in oder in der Nähe der chinesischen Millionenstadt Wuhan, die besonders stark vom Coronavirus betroffen war. Aber auch die Lieferungen aus Indien sind massiv bedroht, denn die Regierung dort hat den Export von 26 Wirkstoffen, darunter 13 für Europa relevante, untersagt." Dazu gehören zum Beispiel drei wichtige Antibiotika sowie Paracetamol. Auch Narkosemittel, Medikamente zur Krebsbehandlung oder bei Bluthochdruck fehlen. "Da sehe ich dann verzweifelte Patienten", sagt Pacher.

Wie schwierig bis unmöglich es derzeit sein kann, die passenden Medikamente zu bekommen, hat auch der Ingolstädter Internist und Kardiologe Bernhard Kehrwald erfahren. Er hat einer Patientin Quensyl verschrieben, ein Mittel, das sie seit Längerem wegen einer Autoimmunerkrankung einnimmt und auch gut verträgt. In der Apotheke hieß es dann, Quensyl sei weder vorrätig noch lieferbar. "Wir müssen andere immunsuppressive Medikamente ausprobieren. Aber das ist ein Risiko für die Patientin", sagt Kehrwald. Warum der Hersteller Sanofi das Medikament derzeit nicht liefern kann, und wann es vielleicht wieder so weit ist, war nicht zu erfahren.

Pharmakonzerne müssen weder eine Warnung rausgeben, bevor ein Medikament vorübergehend nicht mehr lieferbar ist, noch müssen sie den Grund nennen. Auch wie lange der Engpass voraussichtlich dauern wird, ist nicht anzeigepflichtig. Die Ingolstädter Patientin muss nun für unbestimmte Zeit auf ihr gewohntes Medikament verzichten. "Der wahrscheinliche Grund dafür ist, dass Quensyl - das auch als Prophylaxe und bei der Behandlung von Malaria eingesetzt wird - als Wirkstoff Hydroxychloroquin enthält", sagt ihr Arzt Bernhard Kehrwald. Und Chloroquin und Hydroxychloroquin gelten als mögliche Mittel gegen die Lungenkrankheit Covid-19.

Forscher aus China und Frankreich berichteten nach kleineren klinischen Studien mit Coronavirus-Patienten von positiven Ergebnissen. US-Präsident Donald Trump bezeichnete Chloroquin daher bereits als mögliches "Geschenk Gottes". Seitdem ist der Wirkstoff begehrt - und knapp. "Eine Bestätigung der Wirksamkeit durch groß angelegte Studien steht aber noch aus", betont Kehrwald. Allerdings laufe derzeit eine Prophylaxe-Studie mit Hydroxychloroquin in England bei 10000 gesunden Teilnehmern , die im Gesundheitswesen arbeiten und Kontakt mit Corona-positiven Patienten hatten. Hydroxychloroquin soll das Virus am Wachstum hindern beziehungsweise schneller aus dem Körper eliminieren.

 

Auch die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) hatte vergangene Woche davor gewarnt, Coronavirus-Patienten damit zu behandeln. Hydroxychloroquin kann in Kombination mit Azithromycin, einem Antibiotikum, zu lebensgefährlichen Herzrhythmusstörungen führen, weshalb die EMA vergangene Woche davor gewarnt hatte, Coronavirus Patienten außerhalb von Studien damit zu behandeln.

In jedem Fall aber zeigt dieser Fall die große Schwachstelle in unserer Arzneimittelversorgung: die enorme Abhängigkeit. "Wir müssen lebenswichtige Wirkstoffe wieder in Europa produzieren", betont Apotheker Pacher. "Die Wirkstoffe aus Asien sind zwar von höchster Qualität - aber wenn sie nicht bei uns ankommen, können wir auch keine Arzneimittel zusammenbauen." Die Politik habe die Problematik inzwischen erkannt, sagt er. "Der Druck ist durch die Corona-Krise noch größer geworden." Er setzt darauf, dass Politik und Unternehmen aus der derzeitigen Krise lernen und umdenken. Bis eine pharmazeutische Produktion hierzulande anlaufen kann, dauert es aufgrund der hohen Anforderungen aber mindestens zwei bis drei Jahre.

"Wir müssen auch das Rabattsystem der Krankenkassen hinterfragen, das zwar sehr effizient ist, aber die bestehenden Strukturen verstärkt", so Pacher. Einige wenige Firmen konzentrieren sich auf die Produktion des Wirkstoffs, für andere Unternehmen rechnet sich das nicht mehr. Fällt allerdings ein Hersteller aus, kommt es zu Engpässen.

Ein weiteres enormes Problem, das dieser Tage aufgedeckt wird und für viel Ärger sorgt, ist die fehlende Schutzkleidung. "Der Alltag ist schwierig: Ich habe für meine Praxis nichts bekommen", erzählt Kehrwald. "Meine Mitarbeiterinnen haben jeweils nur zwei FFP2-Masken, die ich auf privatem Wege organisieren konnte." Die müssten nun länger getragen werden, als sie eigentlich sollten. "Denn die Menschen werden weiter herzkrank und kommen in die Praxis. Wir haben derzeit zwar etwas weniger Patienten, aber mehr Kranke." Was ihn allerdings merklich frustriert ist, "dass wir aus der Geschichte nichts lernen". Epidemien und Warnungen davor gab es schließlich genug.

Auch die Ausstattung der Alten- und Pflegeheime mit Schutzkleidung ist verheerend. "Wir bekommen einfach nichts", erzählt die Leiterin eines Pflegeheims in der Region. "Wir können deswegen auch keine neuen Bewohner aufnehmen, da wir sie nicht in eine 14-tägige Quarantäne nehmen können."

Zumindest aber versucht die Bundesregierung ihre Untätigkeit zu Beginn der Krise aufzuholen: Sie kauft Schutzkleidung, wo es möglich ist. Außerdem deckt sich Deutschland mit Präparaten ein, die hilfsweise gegen Covid-19 zum Einsatz kommen könnten. Das Bundesgesundheitsministerium bestätigte vergangene Woche, dass die "zentrale Beschaffung" eingeleitet worden sei. Dazu zählen das in Japan als Grippemittel zugelassene Avigan sowie Malariamittel mit dem Wirkstoff Chloroquin. Der Pharmakonzern Bayer will sein Malariamittel Resochin nun auch in Europa produzieren lassen.

DK

Sandra Mönius

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