Hilpoltstein

Weiße Fahnen retten die Stadt

Am 22. April 1945 marschieren amerikanische Truppen kampflos in Hilpoltstein ein

19.04.2020 | Stand 23.09.2023, 11:40 Uhr
Die amerikanische Flagge weht im Frühjahr 1945 am Eingang des Gasthauses "Zur Post" in der Marktstraße. Der "Postmichl" Michael Wechsler war sieben Wochen lang Bürgermeister in Hilpoltstein. −Foto: Stadtarchiv Hilpoltstein

Hilpoltstein - Es ist der 20. April 1945. Wie ausgestorben liegen die Straßen in Hilpoltstein.

Es ist fast wie in der Corona-Pandemie. Nur mit dem einen Unterschied: Von fern hört man den Donner von amerikanischen Geschützen. Seit Tagen leben die Menschen in den Felsenkellern außerhalb der Stadt. Nur ab und zu, wenn der unheimliche Lärm der Geschütze verstummt, wagen sich einige Leute in die Stadt, um Essen für sich und die anderen zu holen und um die Tiere im Stall zu versorgen. Die Nerven liegen blank. Man fragt sich, was nun kommen wird, wie und ob das Leben weitergehen wird.

Der Krieg, der von deutschem Boden ausgegangen ist, ist nach Deutschland zurückgekehrt. Es sind die Tage kurz vor dem totalen Zusammenbruch. Auch die Hilpoltsteiner wissen: Die Amerikaner kommen. Aber man weiß nicht, wann und wie es sein wird.

Einen Tag vorher, am 19. April, besetzen die amerikanischen Truppen Schwabach. Mit Panzersperren haben die Schwabacher die Ausfallstraßen abgeriegelt. In der Stadt herrscht ein wüstes Durcheinander. Eingeklemmte Militärfahrzeuge können weder vor noch zurück, deutsche Soldaten haben sich in der evangelische Stadtkirche verschanzt.

Währenddessen sitzen die Menschen in Hilpoltstein dicht zusammengedrängt in den Felsenkellern. Stündlich erwartet man den Einmarsch der amerikanischen Truppen. Der damalige Bürgermeister Otto Speck will, dass die Stadt geschont wird. "Hilpoltstein wird nicht verteidigt", sagt er und hält daran fest. Aber vor der Stadt liegen SS-Leute, das könnte gefährlich werden. Man hört die Schießerei weithin.

Der 20. April ist fast vorüber, es wird Nacht, ohne dass man eine Spur von den Amerikanern zu sehen und zu hören bekommen hätte. Doch bald darauf geht der Hexenkessel los. Die Amerikaner feuern mit Artillerie von Heuberg aus auf Hilpoltstein. Mehrere Granaten schlagen in der Nähe des ehemaligen Sparkassengebäudes ein. Das ist das Gebäude neben der Polizei, heute die Redaktion des Hilpoltsteiner Kurier. In diesem Haus wird eine junge Rotkreuzschwester, die zu Besuch bei ihrer Mutter ist, tödlich getroffen. Sie hat leichtsinnigerweise nicht den Keller aufgesucht.

Am Lohbach, in der Nähe der Speckpumpen, geht ein Haus in Flammen auf. In der Freystädter Straße werden einige Häuser in Brand geschossen, das Rochusanwesen und die Scheune des Landwirts Streb. Die wenigen Männer, die in der Stadt sind, eilen noch in der Nacht zu Löscharbeiten hinaus.

"Langsam verging die lange Nacht", schreibt die damals 18-jährige Elisabeth Rehm, die am 13. März 2019 verstorben ist, in ihren Erinnerungen. "Es kam der Tag, der 21. April, an dem die Amerikaner erwartet wurden. Immer wieder gingen einige vorsichtig aus dem Keller, um sich umzusehen. Wir jungen Mädchen und Buben wollten auch was sehen. Es war gegen 10 Uhr, als wir leichtsinnig über die Solarer Straße, von einigen Büschen versteckt, geduckt zur Richt hinaufliefen. Da sahen wir drüben am Schlossbuck, unter den Kastanienbäumen einen Stoßtrupp der Amerikaner in ihren Kampfanzügen. So schnell schauten wir gar nicht, da wurden wir beschossen. Wir schmissen uns hin, stolperten, rollten und liefen um unser Leben. Glücklich und unversehrt konnten wir den Keller erreichen. Haben uns vielleicht die anderen dort ausgeschimpft! Mit weißer Fahne und gehobenen Händen mussten wir alle zur Dreifaltigkeitskapelle, wo schon viele aus anderen Kellern dastanden. Jemand hat uns zugeflüstert: ?Die tun fei nix, ihr braucht's net Angst hom. ' Von bewaffneten, Kaugummi kauenden Amis wurden wir durchsucht, dann durften wir heimgehen. Wir hörten, dass unsere Stadt vom Bürgermeister an die Amis übergeben worden war. In den Straßen fuhren Panzer. Besetzt waren sie mit vielen schwarzen Soldaten. Wir hatten ja noch nie Menschen in dunkler Hautfarbe gesehen. "

Nachdem sich die SS (Schutzstaffel) in Richtung Solar abgesetzt hat, ruft Bürgermeister Otto Speck den Volkssturm zurück und geht mit dem Stadtsekretär Benno Buxhofer mit einer weißen Fahne in der Hand den amerikanischen Truppen entgegen, um zu verhindern, dass noch mehr Schaden angerichtet wird. Seine Bemühungen haben Erfolg. Die Amerikaner zeigen sich friedlich. Sie befragen die Zivilbevölkerung und zeigen sich anfangs nicht ganz sicher, ob sie den Angaben Glauben schenken können, dass sich nur Frauen, Kinder und alte Leute in den Kellern im Wald aufhalten.

Inzwischen hat man auch oben in den Felsenkellern bemerkt, was in der Stadt los ist. Josef Grimm, der später als erster Bürgermeister von der amerikanischen Militärregierung eingesetzt wird, kommt, ein weißes Tuch schwenkend, herunter. Auch aus den Häusern werden weiße Laken gehalten, zum Zeichen, dass man sich friedlich ergeben werde.

In den folgenden Tagen geht es in der Burgstadt turbulent zu. Rund 30 Häuser werden beschlagnahmt. Die Bevölkerung darf sich zwischen 19 Uhr und sieben Uhr morgens nicht auf der Straße aufhalten. Die Militärregierung hat eine Ausgangssperre verhängt. Sie hat sich im Haus Marktstraße 4 (jetziges Rathaus II) einquartiert. Zuvor hat dort die NS-Kreisleitung residiert. Es beginnt die endlose und zermürbende Serie der Verhöre.

Die Amerikaner wandeln das NS-Denkmal am Solarer Berg in ein Denkmal gegen Krieg und Faschismus um. Nationalsozialistische Mitläufer werden gezwungen, mit Spaten am Sonntagvormittag anzutreten und mit Hand anzulegen.

Verschleppte Russen und Polen, die aus den Lagern kommen, stehlen, was nicht niet- und nagelfest ist. In der ehemaligen Turnhalle an der Jahnstraße ist ein großes Textillager untergebracht, davon bleibt kein Stück übrig. Auch Geschäfte werden geplündert, mit Ausnahme der Backdie-Filiale an der Allersberger Straße, vor die sich schützend Russen und Polen stellen, weil sie in den Monaten zuvor von der Geschäftsführerin manches Gute erfahren haben.

Das Amt des Bürgermeisters muss von der Militärregierung mehrmals neu besetzt werden, weil sich die Männer immer wieder weigern, zu beschaffen, was man von ihnen verlangt. Erster Bürgermeister wird Josef Grimm, ihm folgt für sieben Wochen Michael Wechsler, den man später als "Postmichel" kennt. Dessen erste Amtshandlung ist es, den Schulschwestern ihr ureigenes Wohngebäude zurückzugeben und ihnen wieder das Mädchenschulhaus anzuvertrauen, um dort Unterricht erteilen zu können.

Bald nach dem Einmarsch in Hilpoltstein langweilen sich die amerikanischen Soldaten. Sie spielen Baseball am Marktplatz. Einige Hilpoltsteiner Buben schauen ihnen immer wieder zu. Als sie die Soldaten fragen, ob sie auch spielen dürfen, überlassen die Amerikaner ihnen bereitwillig einen Baseballschläger. Es gilt zwar das Fraternisierungsverbot, aber die Soldaten halten sich kaum daran.
Aus Langeweile veranstalten sie sogar mit ihren kleinen Kampfflugzeugen des öfteren waghalsige Verfolgungsmanöver, indem sie im Tiefflug über Hilpoltstein hinwegbrausen.

Beinahe wäre Hilpoltstein doch noch in Schutt und Asche gelegt worden. Schon wenige Tage nach dem Einmarsch der Amerikaner feuern verschanzte SS-Truppen mit einem Geschütz auf die bereits übergebene Stadt. Als im Mai in der Bahnhofstraße ein Schuss fällt, vermuten die Amerikaner dahinter ein Attentat auf einen ihrer Offiziere. Sie ordnen an, den Stadtteil von der Post bis zum Bahnhof zu zerstören. Der 35-jährigen Gertrud Schindler aber gelingt es, mit ihrer geschickten Übersetzungstaktik überzeugt sie den US-Obersten, dass es sich bei dem Heckenschützen nicht um einen Deutschen gehandelt habe, sondern ehemalige Zwangsarbeiter auf der Lauer gelegen hätten. Die Offiziere schenken der Frau, die Englisch mit amerikanischem Akzent spricht, Glauben und lenken ein.

Auch als die Amerikaner polnischen und russischen Zwangsarbeitern ein dreitägiges Plünderungsrecht zugestehen wollen, schickt die Stadt ihre Dolmetscherin, um zu retten, was der Krieg nicht schon genommen hat. Gertrud Schindlers Bemühungen sind erfolgreich. Die Entscheidung wird aufgehoben.

Die junge Studienrätin Gertrud Schindler hat ihre Fremdsprachenkenntnisse während eines einjährigen Aufenthalts bei ihrem Onkel in Los Angeles erworben. Von 1940 an hat sie mit ihrer Familie rund zehn Jahre lang in Hilpoltstein gelebt. Schindlers Ehemann Anton arbeitet während dieser Zeit als Ingenieur bei der Autobahnverwaltung; einige Jahre ist er als Soldat im Feld. 1950 zieht die Familie von der Hilpoltsteiner Marktstraße nach Feucht.

Der erste Nachkriegslandrat H. P. Schmitz hat Gertrud Schindler bestätigt, dass sie vom ersten Tage nach dem Einmarsch der amerikanischen Besatzungstruppen ab dem 22. April 1945 als Dolmetscherin sowohl im Interesse der Stadt Hilpoltstein als auch des Landkreises tätig gewesen ist. In dieser Zeit habe sie unermüdlich bei Tag und Nacht ihre ganze Persönlichkeit in den Dienst der Sache gestellt. Sie habe die Stadt vor zwei großen Katastrophen bewahrt, schreibt der Landrat am 16. November 1946. Gertrud Schindler stirbt 1989 im Alter von 79 Jahren in Feucht.

HK

Robert Unterburger

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