Gastbeitrag: Ankerzentren auflösen und Geflüchtete dezentral unterbringen

30.08.2020 | Stand 02.12.2020, 10:40 Uhr
  −Foto: Brandl, Michael, Ingolstadt

Die Bilder vom Sommer 2015 wird man so schnell nicht vergessen.

 

Hunderttausende Männer und Frauen, bepackt mit Rucksäcken, Koffern, Bündeln, Kinder auf dem Arm oder Huckepack, bewegen sich in größter Augusthitze auf die Grenzen zu. Krieg und Zerstörung in Syrien und anderen Ländern kommen mit dem Flüchtlingstreck ganz nahe, bedrängen, bedrücken.

Schnell ist Ingolstadt erfasst von großer Empathie, von "Willkommenskultur". Unzählige freiwillige Helfer besorgen das Nötigste für den täglichen Bedarf, begleiten Flüchtlinge auf Behördengänge und bei Arztbesuchen, geben Deutschunterricht, unterstützen beim Ausfüllen von Anträgen. Und weit mehr. Etliche nehmen einen oder mehrere Geflüchtete bei sich zu Hause auf, kochen syrisch oder afghanisch, pflegen beispielhaft das, was man Integration nennt, sprechen von Gewinn für beide Seiten.

Bei oberflächliche Betrachtung scheint die Situation in Ingolstadt in Ordnung zu sein und man könnte Merkels Satz zustimmen. Doch genaueres Hinsehen lohnt.

Seit Sommer 2018 sind die Max-Immelmann-Kaserne (MIK) und ihre drei Dependancen - sie liegen ghettoartig am Rande der Stadt, weitab von der Zivilgesellschaft - zuständig für die Erstaufnahme aller Geflüchteten. Kann man mit dem dort "Geschaffenen" zufrieden sein? Beurteilt werden muss eine Gesellschaft immer daran, wie sie mit den Schwächsten umgeht. Maßstab sind unsere Wertvorstellungen, die christlich fundiert und festgeschrieben sind in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. So betrachtet zeigt sich Düsteres. Seit Jahren gibt es Klagen über die Lebensbedingungen.

"Das Lager traumatisiert! " Dieser Satz aus dem Mund von Mitarbeitern sowohl des Sicherheitsdienstes wie auch von Fürsorgeeinrichtungen und Ehrenamtlichen beunruhigt. "Wer nicht krank ist, wird im Lager krank. "
Kaum Privatsphäre, kaum Beschäftigung, kaum Unterhaltung, keine Perspektive, wie das Leben weitergehen soll, die Aufenthaltsdauer ist viel zu lang, so die häufig gehörten Kritikpunkte.

Für Frust sorgt, dass die Menschen nicht selbst kochen dürfen, was laut Aussage von Mitarbeitern vor Ort organisierbar wäre. Engagierte Ingolstädter und Amnesty International nehmen die Kritik auf, verfassen die "Ingolstädter Erklärung" und fordern Abhilfe.

Daraufhin gibt es kleine Verbesserungen. So bekommen Mütter mit Babys bis zu eineinhalb Jahren einen Wasserkocher zum Erwärmen der Fläschchen. Das Frauenhaus im MIK wird mit einer Schließanlage versehen. Derzeit ist sie defekt. Die Tür steht weit offen.
Großer Verbesserungsbedarf besteht allerdings an allen Ecken und Enden: bei der Identifizierung und Behandlung von traumatisierten Menschen - viele Frauen wurden auf der Flucht vergewaltigt, bei der Betreuung von Kindern und Jugendlichen, beim Unterricht, bei der Ausstattung der Kinderzimmer wie auch der Gemeinschaftsräume, bei der Verkürzung der Aufenthaltsdauer, der Ausstattung mit Dolmetschern, bei transparenter Information und objektiver Beratung. Der Infobus des Münchner Flüchtlingsrats wurde vom Gelände verbannt.

Corona verschärfte die Situation im Lager. Es grenzt an ein Wunder, dass es in Ingolstadt nicht wie andernorts zu einem Corona-Ausbruch kam.

Alarmsignal Ende 2019: Die Münchner Organisation "Ärzte der Welt", die traumatisierte Menschen behandelt, stellt ihre Tätigkeit ein, weil die Voraussetzungen für eine sinnvolle Betreuung nicht gegeben sind.

An der grundlegenden Tatsache, dass diese Lager für den längeren Aufenthalt nicht geeignet, ja unwürdig sind, ändern kleine Schritte nichts. Diese Sonderlager müssen abgeschafft werden. Geflüchtete Menschen dürfen in den vielen Monaten ihres Aufenthalts nicht entmündigt, in ihrer Integrationsfähigkeit, in ihren Kompetenzen nicht um Jahre zurückgeworfen werden. Welches Bild von Deutschland, von Ingolstadt nehmen diese Menschen mit nach Hause!

Deshalb fordert die "Ingolstädter Erklärung" die Auflösung des Ankerzentrums zugunsten von dezentraler Unterbringung, die es ja bereits gibt, in denen Geflüchtete ihr Leben selbst organisieren können. Wenn das gelingt, verliert Angela Merkels "Wir schaffen das! " seinen schalen Beigeschmack.

ZUR PERSON
Gudrun Rihl, geboren 1942, Studiendirektorin im Ruhestand, gehörte von 2002 bis 2014 der SPD-Fraktion im Ingolstädter Stadtrat an. Sie engagiert sich seit vielen Jahren für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit nichtdeutschen Wurzeln sowie für amnesty international.

DK

 

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