Die digitale Depression

Umjubelte Premiere: Servé Hermans inszeniert "(R)Evolution" im Großen Haus des Stadttheaters Ingolstadt

25.09.2020 | Stand 23.09.2023, 14:23 Uhr
Spielwütiges Ensemble: Matthias Zajgier, Sarah Horak, Enrico Spohn, Peter Rahmani und Karolina Nägele (von links). −Foto: Herbert

Ingolstadt - "Artech" heißt der neue Service des Stadttheaters Ingolstadt, "der nichts Geringeres zum Ziel hat, als das verstaubte Medium Theater nun endlich auch in das 21. Jahrhundert zu führen", so verspricht es uns Schauspieler Marc Simon Delfs, der das Publikum am Donnerstagabend zur ersten Vorstellung der Saison im Großen Haus begrüßt - und über die neuen Datenschutzrichtlinien des Theaters informiert.

Fortan werde jeder Zuschauer mittels Sensor und Kamera kontrolliert, um anhand der so gewonnenen Daten aus Reaktion und Emotion das künftige Repertoire zu optimieren. Nicht nur, dass der Algorithmus dem Theaterbesucher ganz individuell Stücke vorschlagen wird, nein, der Algorithmus wird bald selbst künstlerische Inhalte produzieren - und somit Autoren, Dramaturgen, Theaterleute, Schauspieler (die von Hologrammen und Schauspielrobotern ersetzt werden) überflüssig machen.

So hebt er an, der Blick in die Zukunft, wie ihn Yael Ronen und Dimitrij Schaad in ihrem Stück "(R)Evolution. Eine Anleitung zum Überleben im 21. Jahrhundert" wagen. Inspiriert wurden sie dazu von dem israelischen Historiker Yuval Noah Harari, der in seinen "21 Lektionen für das 21. Jahrhundert" skizziert, wie durch biotechnologische Innovationen eine neue Spezies entstehen könnte. Ronen und Schaad spitzen seine Gesellschaftsdiagnosen zu einer absurden Science-Fiction-Komödie zu, die der niederländische Regisseur Servé Hermans mit viel Witz und doppeltem Boden und einem großartigen Ensemble in Ingolstadt in Szene setzt. Nach 90 Minuten gibt es dafür begeisterten Applaus.

Das Stück spielt in einer nahen Zukunft. Einer Zukunft, die noch sehr an die Gegenwart erinnert. Die Menschen leben in digital durchpulsten Metropolen in Smart Homes, wo hinter spiegelglatt polierten Oberflächen die Elektrogeräte untereinander kommunizieren und der Kühlschrank mit Mamas Stimme spricht. Statt mit Hochglanz-High-Tech und futuristischem Bling-Bling arbeitet Hermans mit einer nahezu skelettierten Bühne, wo auf schmalen Farbstreifen in lautloser Retro-Optik Zahlenfolgen, Buchstaben, Wörter rendern oder grobkörnige Videos eingespielt werden. Im Zentrum leuchtet neongrün der Schriftzug REVOLUTION. Die Möblierung beschränkt sich auf ein selbstständig spielendes Klavier am linken Bühnenrand.

Die Menschen des Jahres 2040 tragen nachhaltige Casual Wear Couture (Kostüme mit Style: Katrin Busching) und haben das Social Distancing verinnerlicht. Doch trotz aller technologischen Fortschrittlichkeit ticken sie noch genauso altmodisch wie die des Jahres 2020. Wieso sonst sollte René Bedenken haben, sich von Dr. Stefan Frank ein Baby aus dem Genpool komponieren zu lassen? Mit Wunschgeschlecht, ohne Erbkrankheiten, hohem IQ, aparter Nase - und dazu energieeffizient. Wieso sehnt sich eben jener Dr. Stefan Frank nach einer echten Berührung statt des ingeniösen VR-Sex mit Partner Ricky? Und warum führt Tatjanas kleiner Nostalgie-Trip ausgerechnet zu dem Haus, wo sie einst mit ihrem (Ex-)Mann glücklich war? Längst wird das Gebäude als Lager für niederländische Geflüchtete genutzt, die hier seit der Klimakatastrophe ihr Dasein fristen - misstrauisch beäugt vom Staat, der hier eine terroristische Zelle vermutet. Wie alles mit allem zusammenhängt, erzählt das Stück auf so abstruse wie unterhaltsame Weise.

Ein bisschen "Die Frauen von Stepford", eine Prise "Real Humans", eine Spur "Minority Report", eine Anmutung der "Matrix" - so präsentiert sich "(R)Evolution". Denn da gibt es schließlich noch die Alectos: humanoide Roboter als Weiterentwicklung des neuzeitlichen KI-Sprachassistenten Alexa. Alecto, "die niemals Rastende", ist der Name einer Gottheit in der griechischen und römischen Mythologie, die mit ihren beiden Schwestern als Trio die Erinnyen bildet. Rachegöttinnen als Haushaltshelfer? Welche Rolle spielt der (Überwachungs-) Staat? Hat Technologie eine Moral? Digitale Euphorie oder digitale Diktatur? Dystopie oder Utopie? Wie sieht sie aus, die perfekte Beziehung zwischen Mensch und Maschine? All diese Fragen verhandelt das Stück - und bietet dabei bestes Schauspielerfutter.

Denn die Figuren sind so extrovertiert wie unnahbar, spröde, einsam, überfordert. Und die Schauspieler zeigen die Not, Zerrissenheit, Bedürftigkeit, Komplexität ihrer Figuren so facetten- wie einfallsreich, präzise, prägnant, mit Energie und Esprit. Zumal fast alle noch in einer weiteren Rolle als Alecto auftrumpfen. Köstlich etwa Sarah Horaks brachiale Hubot-Therapiestunde, kurios das virtuelle Good-Cop-Bad-Cop-Gespann Enrico Spohn und Peter Rahmani, abgründig Karolina Nägeles Datenkraken-Alecto. Zum Höhepunkt des Abends aber gerät Matthias Zajgiers Exkurs über den Menschen als Opfer seiner eigenen Innovationskraft. Was für ein differenziertes Spiel zwischen Wut und Ohnmacht!

Regisseur Servé Hermans zeigt, wie sich Evolution und Revolution gegenseitig durchdringen. Aber er bleibt optimistisch: Anders als im Original gelingt es in seiner Inszenierung zumindest einem Menschen, Alectos Machenschaften offenzulegen, ihn auszuschalten und die Herrschaft über das eigene Leben zurückzugewinnen. Und das Schlusswort überlässt er auch nicht einem Alecto, sondern einem Schauspieler aus Fleisch und Blut: Marc Simon Delfs ruft auf zu Wachsamkeit und Neugierde. "Fragt nicht: Was wird aus uns? Fragt euch lieber: Was wollen wir werden? Was werden wir wollen? " Ein spannendes Stück, das keine Antworten gibt, sondern wichtige Fragen an die Zukunft stellt - federleicht, hochkomisch und höchst unterhaltsam.

DK


ZUM STÜCK
Theater:
Großes Haus,
Stadttheater Ingolstadt
Regie und Bühne:
Servé Hermans
Kostüme:
Katrin Busching
Vorstellungen:
bis 18. Oktober
Kartentelefon:
(0841) 305 47 200

Anja Witzke

URL: https://www.donaukurier.de/archiv/die-digitale-depression-1804479
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