Riesiges Football-Spektakel
NFL in München: Brady zieht niemand die Lederhosen aus

69 811 Fans verwandeln Bayern-Stadion in ein Tollhaus

14.11.2022 | Stand 19.09.2023, 22:29 Uhr

Ungewohnter Anblick: Die Allianz-Arena in München verwandelte sich für die Partie in ein Footballstadion. Foto: Stache, afp

Football statt Fußball in der Münchner Allianz-Arena: Das erste NFL-Spiel in Deutschland wird zur erwarteten Party der Fans. Beim 21:16-Sieg der Tampa Bay Buccaneers gegen die Seattle Seahawks muss Star-Quarterback Tom Brady aber zittern.

Exakt 58:57 Minuten sind es noch bis zum Anpfiff zwischen den Buccaneers und den Seahawks, als die bei weitem noch nicht vollbesetzte Fröttmaninger Arena das erste Mal auch von den Tribünen aus ohrenbetäubend laut wird; also zusätzlich zur Dauerbeschallung mit Musik aus den Boxen unter dem Stadiondach, die den Fußballtempel mehr zu einem Rockkonzert machen als zum Schauplatz einer Sportveranstaltung. Knapp eine Stunde vor dem Auftakt des ersten NFL-Saisonspiels auf deutschem Boden ist der American-Football-Hype endgültig in München angekommen – mit dem erfolgreichsten Spieler der Geschichte.

Tom Brady, der „Goat“ („Greatest of all time“ – „Größter aller Zeiten“) ist da, aus dem Spielertunnel ins Novemberlicht für die europäischen Fans getreten. Einmal die ganze Länge des Spielfelds rauf, auf dem sonst Serge Gnabry vom FC Bayern für seinen Torjubel in der Kaffeetasse rühren darf, schleudert der siebenmalige Super-Bowl-Champion seine Faust in die Luft und erhält den erwünschten Jubel. Eine Videobotschaft des 45-Jährigen in Deutsch von der Leinwand gibt es auch noch: „Auf geht’s, Deutschland!“

Deutsche Nationalhymne wird lauthals mitgesungen

Es ist angerichtet für den Höhepunkt der Party, die schon die ganze Woche in der bayerischen Landeshauptstadt tobt. München ist die erst vierte Stadt außerhalb der USA mit einem NFL-Spiel. Die Milliardenmaschinerie der National Football League (NFL) plant die Expansion auf dem europäischen Wachstumsmarkt generalstabsmäßig. In München und Frankfurt sind jeweils zwei Spiele bis 2025 zugesagt. Vielleicht kommt nächstes Jahr eine zusätzliche Partie in „Good Old Germany“.

Alles ist einfach anders: Der große NFL-Boss Roger Goodell wird in NFL-Stadien regelmäßig ausgepfiffen, kann hier unbehelligt in der Allianz Arena flanieren und sich hierzulande als Visionär feiern lassen, der die große Show über den Großen Teich bringt. Gefeiert wird draußen vor der Arena, wo die Ticketbettler vor der U-Bahn-Station vergeblich ihre Wunschzettel in die bunte Masse mit ihrem babylonischen Sprachengewirr halten. Aber vor allem im mit rund 69811 Zuschauern innerhalb nur einer Stunde ausverkauften Tollhaus, wo selbst Christoph „Icke“ Dommisch einen großen Applaus abbekommt, als der Mann mit der blonden Haarpracht aus der TV-Fernsehcrew von ProSieben im Innenraum auftaucht.

Diese friedliche Footballparty prägt, sogar die deutsche Nationalhymne (von Sängerin Sophia intoniert) wird lauthals von den Zuschauern mitgesungen – in deutschen Fußballstadien gab es schon Pfiffe. Und dann bejubeln die in etwa gleich großen Fanlager nach dem Kickoff fast jede gelungene Aktion auf dem rutschigen Rasen, obwohl es nominell ein Heimspiel von Bradys Bucs ist.

Der erste erfolgreich angebrachte Pass des 45-Jährigen auf seinen Star-Receiver Mike Evans, aber auch das verballerte Field Goal von Buccaneers-Kicker Ryan Succop. Das erste Viertel bleibt wenig überraschend punktlos. Für den vor der Saison von seinem Rücktritt wieder zurückgetretenen Brady läuft es in dieser Spielzeit (fünf Pleiten in neun Spielen vor München) noch nicht rund. Er habe aber wegen der Rückkehr „nullkommanull Reue“ , hieß es vor der Partie vom dreifachen Familienvater, der gerade erst das Ehe-Aus mit Supermodel Gisele Bündchen verkündet hatte.

Da kam der Ausflug über den Großen Teich gerade recht, vor allem weil es Geschenke gab: wie einer eigenen Brady-Lederhose, die der Superstar am Spieltag sogar tragen wollte. Und überhaupt: „Du wirst dich nicht an alle Spiele in deiner Karriere erinnern, aber an dieses wirst du dich erinnern“, hatte er vorab über die Münchner Festspiele gesagt.

Ab dem zweiten Viertel übernimmt der „Goat“ tatsächlich die Kontrolle: Mit einem 32-Yard-Touchdown auf Julio Jones. Die Welle schwappt durchs Stadion. Auch die Bayern-Stars um Gnabry feiern auf den Rängen mit. Einen erlaufenen Touchdown von Ballträger Leonard Fournette später steht es zur Halbzeit 14:0 für Tampa und Brady. Die Seahawks sind chancenlos.

Vor allem Bradys Gegenüber als Spielmacher kommt schwer in die Gänge. Überschaubare 69 Yards in Hälfte eins wirft Seattles Quarterback Geno Smith, über den es auch eine nette Kleidungsgeschichte gibt. Bei der großen Talentauswahl, dem NFL-Draft, rechnete er einst fest damit, in der ersten Runde am ersten Tag ausgewählt zu werden und hatte entsprechend leicht gepackt. Als der College-Star von allen Teams verschmäht wurde, saß er mit beleidigter Miene an Tag zwei in frisch gekaufter Kleidung vor den Kameras – und kam unter.

Zu „Country Roads“ leuchten alle Handylichter

Heuer ist er die (Wieder-)Entdeckung der Seahawks. Und der 32-Jährige bringt sein Team nach der Halbzeit mit geänderter Taktik in Fahrt, wenn auch zunächst nur für ein Field Goal zum 14:3. Ein verpatzter Trickspielzug von Tampa scheint die Wende zu sein. Brady will selbst Passempfänger sein, Fournettes Wurf landet in den Händen eines Seahawks: Brady (kurz) auf der Nase – auch das wollen Leute sehen, höhnische Klatscher gegen den „Goat“ füllen das Stadion. Doch im Gegenzug stolpert Smith und verliert den Ball. Nach dem Turnover marschiert Tampa übers ganze Feld, ein Brady-Pass auf Chris Goodwin stellt das Ergebnis auf 21:3.

Smith kontert noch per Touchdown auf Tyler Lockett auf 21:9. Ein Fehlpass von Brady in die Arme von Cody Barton bringt knapp sechs Minuten vor dem Ende doch noch Spannung. Wieder Smith, dieses Mal auf Marquise Goodwin – 21:16. Die Stimmung ist auf dem Höhepunkt. Zu „Country Roads“ brüllt das ganze Stadion und lässt die Handylichter leuchten. Dann ist Fußball-Stimmung auf den Rängen – „Oh, wie ist das schön!“ Das Spiel ist aus. Brady zieht den Hut beim Gang zurück in den Spielertunnel. Und am Ende steht fest: Ihm zieht in München niemand die Lederhosen aus.

DK