Ex-Audi-Chef droht Haftstrafe
Ansage des Gerichts: Vitaminspritze für das Dieselbetrugsverfahren

Münchner Strafkammer öffnet Optionen für Angeklagte und ebnet sich den Weg – Ein Schlaglicht

29.03.2023 | Stand 17.09.2023, 0:17 Uhr

Ex-Audi-Chef Stadler und seinem früheren Motorenchef Hatz droht eine Haftstrafe. Foto: Balk, dpa-Archiv

Das war mal eine klare Ansage! Als Stefan Weickert, Vorsitzender Richter der 5. Großen Strafkammer am Landgericht München II, am Dienstag im ersten Dieselbetrugsverfahren auf deutschem Boden das Mikrofon einschaltete, fiel zunächst einmal die gute Akustik auf.



Nach zweieinhalb Jahren und 161 Verhandlungstagen mit oft mieser Tonqualität vom Richterplatz hat offenbar jemand – vielleicht im Zusammenhang mit dem im selben Saal stattfindenden Wirecard-Prozess – am Mischpult gezaubert. Noch mehr als die Klangfülle ließen aber Weickerts Worte aufhorchen. Die neun Seiten mit den Hinweisen des Gerichts zur Wertung der bisherigen Beweisaufnahme brachten neuen Schwung in die Sache, könnten zur Abkürzung beitragen und sind da und dort durchaus clevere Schachzüge der Strafkammer.

Kammer macht Türen bei der Strafzumessung auf

Die Quintessenz lautet, wie am Dienstag ausführlich berichtet, wie folgt: Von den vier Angeklagten – Ex-Audi-Chef Rupert Stadler, der frühere Audi-Motorenchef Wolfgang Hatz sowie die ehemaligen Entwickler Giovanni P. und Henning L. – sieht das Gericht alle vier als schuldig an. Die drei Techniker sollen Betrugssoftware für Dieselautos ausgetüftelt haben, um Abgaswerte zu schönen, und Stadler soll derart manipulierte Fahrzeuge noch verkauft haben, als der Skandal in den USA bereits aufgeflogen war. Soweit nichts Neues, denn dass die Strafkammer zu Schuldsprüchen tendiert, hatte unsere Zeitung bereits im April 2022 vermeldet.

Überraschend sind hingegen eventuelle Folgen für die Angeklagten, wenn es um die Strafzumessung geht: Henning L., für den als Kronzeuge zwei Einstellungsanträge völlig schiefgelaufen waren, obwohl sogar der Staatsanwalt sich für ihn eingesetzt hatte, kann nun doch mit einer Beendigung des Verfahrens gegen Geldauflage rechnen. Das Gericht hat wohl eingesehen, mit solchem Gebaren ein Eigentor für die Justiz geschossen zu haben – welcher Kronzeuge würde künftig noch „die Hosen herunterlassen“ und kooperieren, wenn der Lohn ausbleibt? Und ohne L., das steht fest, hätte es diesen Prozess in der jetzigen Form nie gegeben.

Korrektur der Schadenshöhe macht Angebote an Angeklagte erst möglich



Stefan Weickert und die Strafkammer brauchten nicht mal tief in die Trickkiste zu greifen, um dieses Angebot hervorzuholen: Vor allem die Verteidigerriege um Hatz und Stadler hatten seit Monaten an der von der Staatsanwaltschaft viel zu hoch angesetzten Schadenshöhe gerüttelt – es waren bis zu 3,2 Milliarden Euro genannt. Hier wird das Gericht deutliche Abstriche vornehmen, was zugleich die Einstellung des Verfahrens für L. ermöglicht. Dem 55-jährigen Neckarsulmer und seinem Verteidiger war die Erleichterung darüber anzusehen, sie strahlten am Dienstag übers ganze Gesicht. Denn sollte es dazu kommen, bleibt L. nicht auf den wohl mehr als siebenstelligen Verfahrenskosten sitzen – die trägt der Staat.

Die deutliche Schadensreduzierung und der Umstand, dass die Strafkammer zudem etliche Teile der Anklage rigoros zusammenstrich, räumt dem Gericht nach Weickerts Worten aber auch bei den drei übrigen Angeklagten Zugeständnisse ein. Das Zauberwort heißt „Bewährung“. Die steht indes nur „bei einem vollumfänglichen Geständnis im Sinne der gegebenen Hinweise“ in Aussicht, betonte Weickert. Für Giovanni P. (66) ist das ein Angebot, das er kaum ausschlagen kann – Prozessbeobachter hatten für ihn bisher kaum Hoffnung gesehen, aus dem Prozess ohne anschließenden Gefängnisaufenthalt herauszukommen.

Geben Hatz und Stadler dieser Versuchung nach?

Sehr viel schwieriger wird es hingegen für die Ex-Manager Hatz (64) und Stadler (60). Beide bestreiten jegliche Schuld. Ihnen droht ohne Geständnis aber das Gefängnis. Ob sie auf das Angebot eingehen, wird wohl bis nach Ostern offen bleiben. Finanziell dürften sie beide gut abgesichert sein, es ist vielmehr eine Frage der Ehre, ihres Rufs und des Stolzes. Mit einer Bewährung „am Bein“ wären sie vorbestraft, mit all den Einschränkungen neben diesem Makel. Andererseits würde damit endlich ein Schlussstrich gezogen, schließlich dauert das Verfahren für sie seit fünf beziehungsweise sechs Jahren an – beide saßen zudem in Untersuchungshaft, Hatz gar für neun Monate, und Stadler von Juni bis November 2018.

Das Angebot des Gerichts steht, und es birgt neben Chancen für den einen oder anderen Angeklagten die Option, den Prozess doch noch diesen Sommer zu beenden, wo die Planung bereits bis in den September hineingelaufen war – eine Vitaminspritze für das mitunter verschlafen wirkende Verfahren sozusagen.

Strafkammer verlässt mitunter sturen Weg der vergangenen zweieinhalb Jahre

Weickerts Hinweise rücken ihn und sein Gremium aber auch weg vom Gefühl der Gnadenlosigkeit und Sturheit, das die Kammer seit Herbst 2020 zeitweise ausgestrahlt hatte. Nun klingt es eher wie: „Wir sind ja gar nicht so!“ Man hat den Ball ins Feld der Verteidigung geschossen und kann nun die Reaktionen abwarten. Sollte es nach dem Urteil Revisionsanträge geben, wird der Blick beim Bundesgerichtshof wohl auch auf dieses Kapitel fallen, und er kann feststellen: Die Kammer hat nicht pauschaliert, sondern die Angeklagten differenziert betrachtet, ohne sie über einen Kamm zu scheren. Wahrscheinlich gerade ein durchaus beruhigendes Gefühl für das Münchner Richter-Team.