Ingolstadt
"Wir müssen die Innovationsschübe nutzen"

René Schmidpeter, Professor für Betriebswirtschaftslehre, über neue Chancen, überholte Geschäftsmodelle und Komfortzonen

03.04.2020 | Stand 02.12.2020, 11:36 Uhr
Ein Arzt hält einen Gesichtsschutz aus dem 3D-Drucker in der Hand. Das Universitätsklinikum Freiburg fertigt derzeit selbst Halterungen an, die in Verbindung mit einer handelsüblichen Overhead-Folie als Gesichtsschutz dienen können. −Foto: von Ditfurth/dpa

Ingolstadt - Der gebürtige Ingolstädter René Schmidpeter hat den Stiftungslehrstuhl für internationale Wirtschaftsethik und Corporate Social Responsibility an der CBS in Köln inne. Wir haben uns mit ihm über aktuelle wirtschaftliche Themen unterhalten.

Herr Schmidpeter, Sie sagen, dass die Corona-Krise zeigt, wie fragil unser derzeitiges Wirtschaftssystem ist. Was genau meinen Sie damit?

René Schmidpeter: Man sieht gerade, dass die Wirtschaft große Veränderungen durchläuft: Die internationalen Wertschöpfungsketten sind zum Erliegen gekommen, der Flugverkehr ist weitestgehend eingestellt, Grenzen wurden geschlossen, und viele Menschen arbeiten von zu Hause aus. Man sieht hier eine enge Verknüpfung von globalen Ereignissen mit dem Virus als auch mit der Wirtschaft.

Wie ist unser Wirtschaftssystem denn für solche großen Ereignisse gerüstet?

Schmidpeter: Viele Dinge, die wir gerade sehen, liegen an unserem ausdifferenzierten Wirtschaftssystem. Zum Beispiel wurden die internationalen Wertschöpfungsketten in den letzten Jahren ausschließlich auf Kosten optimiert. Sie sind dadurch besonders anfällig und fragil für externe Ereignisse wie eben dieses Virus. Wir müssen uns fragen, wie wir das Wirtschaftssystem in Zukunft vielleicht anders ausrichten können, um künftige Krisen besser zu handhaben.

Was wurde denn in den vergangenen Jahren verpasst?

Schmidpeter: Wir haben zum Beispiel nach der Finanzkrise Strukturen nicht umgebaut, sondern mit niedrigen Zinssätzen alte Strukturen gefördert. Diese sind jetzt besonders anfällig, weil sie schon vor der Krise wirtschaftlich instabil waren. Die Krise beschleunigt tendenziell Entwicklungspfade, die auch ohne Krise passiert wären. Das ist wie ein Zeitraffer.

Wo gibt es noch Defizite?

Schmidpeter: Zum Beispiel das medizinische System ist schon vorher oft an seine Grenzen gestoßen. Jetzt haben wir aber die Chance, neue Prioritäten zu setzen: zum Beispiel Pflegekräfte mehr wertzuschätzen, Krankenhäuser neu zu denken. Auch die Frage der Bildung und Digitalisierung wird neu gestellt. Bei Telearbeitsplätzen erleben wir schnelle Schritte nach vorne. Jeder von uns erlebt täglich Grenzen - sozial und vielleicht finanziell -, aber die Krise schafft durch das Erkennen der Grenzen auch neue Gestaltungsmöglichkeiten.

Welche Schlüsse können wir aus der Epidemie ziehen?

Schmidpeter: Zum Beispiel, dass wir die Wertschöpfungskette neu denken und dass wir die Wirtschaft zweckorientiert ausrichten. Denn wie kann es sein, dass in der gegenwärtigen Krise wichtige Medikamente fehlen, weil Wertschöpfungsketten aus China oder Indien unterbrochen sind. Hätten die Pharmaunternehmen das Ziel, die Versorgung von schwerkranken Menschen zu gewährleisten und nicht nur reines Profitstreben im Blick, hätte man in guten Zeiten sicherlich Lager für lebensnotwendige Medikamente angelegt. Es geht also jetzt darum, aus der Krise zu lernen und unsere Wirtschaft stabiler zu gestalten. Das heißt aber auch, dass bestimmte Geschäftsmodelle überholt sind. Ich weiß nicht, ob es nach der Krise noch Billigflüge für 20 Euro nach Mallorca geben wird. Geschäftsmodelle, die keinen Mehrwert für die Gesellschaft haben, gilt es kritisch zu hinterfragen und gleichzeitig als Gesellschaft Prioritäten zu setzen. Da kann jeder einzelne darüber nachdenken: Was braucht man für ein gutes Leben? Ich glaube, da liegen viele Chancen - gerade für einen Industriestandort wie Ingolstadt.

Sie üben Kritik an der Abhängigkeit der Lieferketten. Welchen Preis sind die Verbraucher bereit zu zahlen, um diese Abhängigkeit zu verringern?

Schmidpeter: Das sind natürlich Investitionen. Zunächst ist es vermeintlich teurer, aber in Wahrheit wird es billiger. Denn die jetzige Krise muss ja auch jemand bezahlen. Das sind Kosten, die bis jetzt in der betriebswirtschaftlichen Kalkulation nicht berücksichtigt wurden. Am Ende des Tages zahlt nun die Gesellschaft und damit jeder Einzelne den Preis für das Risiko solcher ausdifferenzierten Wertschöpfungsketten. Wir sollten und werden künftig zu einer anderen gesamtwirtschaftlichen Betrachtung kommen und solche externen Effekte oder Risiken in die betriebswirtschaftlichen Prozesse einpreisen. Dann kommen wir zu ganz neuen Kalkulationen. Und auf einmal rechnen sich dann nachhaltige Geschäftsmodelle, die vorher als zu teuer beurteilt wurden.

China versucht, über das Seidenstraßenprojekt massiv Einfluss nehmen. Wie schwierig wird es, das auszubremsen?

Schmidpeter: Ich glaube, dass gerade kleinräumige Strukturen an Bedeutung gewinnen. Die Solidarität und der Zusammenhalt in einer Region werden entscheidend sein, damit einzelne Wirtschaftsräume gut aus der Krise kommen. Zudem brauchen wir alle gemeinsam eine positive Vision. Vor der Krise war das sehr individuell, jeder hat nach seinem Glück gestrebt. Jetzt sehen wir, dass das Wohl jedes Einzelnen vom Wohl der Gemeinschaft abhängt. Das kann neue positive Energie entfalten, sodass sich zum Beispiel die Menschen wieder mehr mit der Region Ingolstadt identifizieren. Gleichzeitig haben wir einen Technologieschub, den man auch nach der Krise nutzen kann: 3D-Druck, Digitalisierung, E-Learning. Mit 3D-Druckern werden plötzlich Dinge hergestellt, die wir dringend benötigen, Ventile für Beatmungsgeräte etwa. Auf einmal können Automobilhersteller Medizingeräte herstellen. Modelabel produzieren Krankenhauskleidung und Destillerien Desinfektionsmittel. Wir überlegen neu, was die Gesellschaft wirklich braucht. Vielleicht sehen wir künftig mehr Investitionen in Produkte und Dienstleistungen für grundlegende Bedürfnisse wie Gesundheit und Bildung und weniger in Luxusprodukte.

Glauben Sie, dass die Unternehmen und Menschen bislang zu phlegmatisch waren?

Schmidpeter: Wir waren natürlich in einer Komfortzone. Diese Strukturänderungen wurden ja schon länger angemahnt. Es war auch vor der Krise völlig klar, dass sich die Automobilbranche verändern muss oder auch die Luftfahrtindustrie. Die Krise beschleunigt diese Prozesse und reißt die Menschen aus einer nur vermeintlich sicheren Komfortzone heraus. Jetzt müssen wir aufpassen, dass daraus positive Energien entstehen und wir die Innovationsschübe, die aus der Krise entstehen, nutzen.

Wie wahrscheinlich ist es, dass diese umgesetzt werden?

Schmidpeter: Diese Krise ist sicher ein sehr außergewöhnliches Ereignis, das sich niemand in diesem Ausmaß vorstellen konnte. Aber alles, was wir jetzt machen, kann das Ergebnis positiv beeinflussen. Es ist wichtiger als je zuvor, die Zukunft zu diskutieren und diese selbst in die Hand zu nehmen. Vor allem viele kleinere, jüngere Unternehmen, Start-ups, die von sich aus positiv in die Zukunft wirken wollen, haben eine immense Chance, denn es entstehen neue Märkte, neue Dienstleistungen, neue Notwendigkeiten. Wichtig ist aber auch, denjenigen, die unter der Krise leiden, Hilfe zu leisten.

Was müssen wir noch tun?

Schmidpeter: Unsere Werte neu denken - auch die Frage der Kollaboration. Man sieht, dass Pharmaunternehmen und Mediziner weltweit, die vorher in Konkurrenz zueinander standen, nun zusammen an einem Impfstoff forschen. Wenn wir diese Erfahrung nutzen und für weitere Krisen lernen, bringt es uns weiter. Auch für die Krise des Klimawandels und der Biodiversität, wo wir bis jetzt in der Komfortzone sind und wenig dagegen machen. Ich hoffe, dass auch die immensen staatlichen Mittel genutzt werden, das Neue zu etablieren. Denn wir haben gerade jetzt die Mittel, den Umbau des Wirtschaftsstandorts energischer anzugehen. Ich glaube, dass das Wirtschaftssystem danach resilienter sein wird und noch mehr die wahren Bedürfnisse des Menschen in den Mittelpunkt stellt. Es gibt ja Beispiele von Unternehmen, die jetzt nicht fragen, was kann die Gesellschaft für mich tun, sondern, was kann ich leisten, um gesellschaftlichen Mehrwert zu generieren. Das sind zum Beispiel Firmen, die jetzt in Schutzkleidung investieren oder die helfen, die lebensnotwendige Logistik aufrechtzuerhalten. Sie werden nach der Krise wirtschaftlich prosperieren, denn sie richten sich nach dem gesellschaftlich Notwendigen aus.

Die Corona-Krise ist ja nur eine der großen Herausforderungen, denen sich die Menschheit stellen muss. Der Klimawandel ist eine weitere, die die Wirtschaft mindestens genauso fordert.

Schmidpeter: Wir lernen, dass gesellschaftliche Ziele und Solidarität mit den Schwächsten sowie wirtschaftliche Ziele die gleichen sind - das alte Gegensatz-Denken hat ausgedient. Wenn wir jetzt kollektiv handeln und schnellstmöglich gesellschaftliche Lösungen finden, dann wird das auch das Beste für die Wirtschaft sein. Das ist dasselbe beim Klimawandel. Denn wenn wir es nicht schaffen, diesen zu stoppen, werden wir in eine noch viel größere kollektive Krise kommen, die noch viel teurer wird - für jeden Einzelnen. Das gleiche gilt genauso für die Biodiversität: Wenn wir es nicht schaffen unsere Arten zu schützen, etwa Bienen, dann wird der Preis unendlich hoch. Ich denke, die Krise zeigt uns, was exponentielles Wachstum anrichten kann, und dass wir lernen müssen gesellschaftlich und wirtschaftlich damit in Zukunft anderes umzugehen.

Das Gespräch führte Sandra Mönius.