Neumarkt
Neustart in Neumarkt

Piraten geben sich ein Wahlprogramm – Im Bundestag sind sie deswegen noch nicht

12.05.2013 | Stand 03.12.2020, 0:09 Uhr

Neumarkt (AFP) Sie haben etwa 30 Stunden debattiert, ein Wahlprogramm auf den Weg gebracht und eine junge, redegewandte Frau in ihre Spitze gewählt: Die in den Umfragen abgestürzten Piraten haben am Wochenende in Neumarkt versucht, ihren Kompass für die Bundestagswahl zu justieren. Doch zeigte der heftige Streit um die Online-Mitgliederversammlung schmerzhaft, dass die Piraten noch immer schwer mit ihrer basisdemokratischen Organisation zu kämpfen haben.

Parteitage der Piraten haben ihr ganz eigenwilliges Flair: In den Jura-Hallen tummeln sich junge, computerbegeisterte Männer in bedruckten T-Shirts, die Frauen tragen extravagante Piratenbraut-Roben. Vor dem Eingang floriert der Bier- und Bratwurstverkauf, das Piraten-Lieblingsgetränk Club Mate ist meist ausverkauft.

Doch die Bierzelt-Atmosphäre täuschte nur oberflächlich darüber hinweg, dass die rund 1200 Piraten im Saal sich Sorgen machen um den erhofften ersten Einzug in den Bundestag. Auch wenn führende Piraten wie der Bundestagskandidat Bruno Kramm angriffslustig einen „Hammer-Wahlkampf“ ankündigten – viele machten ernste Gesichter. Besonders Neumitglieder sind enttäuscht, dass der Höhenflug seit den triumphalen Einzügen in vier Landtage erst einmal vorbei ist.

Die schwierige Lage der Piraten skizzierte jüngst auch eine Studie: Die bei den Piraten verbreitete „Schwarmorganisation“ sei zu einer politisch notwendigen Agendasetzung „kaum in der Lage“, kritisieren die Politikwissenschaftler Alexander Hensel und Stephan Klecha vom Göttinger Institut für Demokratieforschung die nur schwer in verständliche Bahnen zu lenkende Meinungsbildung.

Zunächst sah es aus, als wollten die Piraten diese akademische These Lügen strafen: Eisern arbeiteten sie sich durch das Antragsbuch mit mehr als 800 Seiten, am Ende standen Beschlüsse zu Kernthemen wie Netzpolitik, Bürgerrechten, mehr Transparenz und Mindestlohn im Wahlprogramm. Manchen Parteitagsteilnehmern wurde schwindlig bei dem Tempo, in dem Beschlüsse durchgewunken werden. „Ihr habt also gerade ohne inhaltliche Debatte ein Wahlprogramm beschlossen, das ihr nicht gelesen habt“, twitterte besorgt die Schauspielerin Anne Helm vom Parteitag.

Und dann sprengten noch die Streits um die sogenannte ständige Mitgliederversammlung (SMV) die straffen Zeitpläne der Parteitagsregie: Zwei Abende lang bekämpften sich die Befürworter und Gegner mit immer neuen Geschäftsordnungsanträgen. An den Mikrophonen bildeten sich lange Schlangen, auf einem Laufband wurde in roten Lettern der Schriftzug „Bitte kein Tumult“ in den Saal projiziert. „Die Stimmung ist im Keller“, resümierte am Samstagabend erschöpft Versammlungsleiter Florian Bokor.

Gestern konnte sich das Plenum dann nur auf einen Minimalkonsens einigen, nach dem die Mitglieder das ganze Jahr über auch außerhalb der Parteitage Beschlüsse fassen können. Ob dieses über Online-Werkzeuge geschieht, lässt der Vorschlag offen. Dabei hatten sich Parteichef Bernd Schlömer und andere Spitzenpiraten gewünscht, dass sich die Piraten wenigstens auf das Bekenntnis zur SMV einigen würden, ohne gleich die technischen Details auszudiskutieren. Eine Online-Mitgliederversammlung – so das Kalkül – wäre auch im Wahljahr für die Internet-Partei ein Aushängeschild, sich von den Etablierten abzuheben. Die in Neumarkt offenbar werdende Lähmung der Piraten in der Frage kommentierte Schlömer pragmatisch: „Das Thema ist einfach nicht entscheidungsreif.“

Im Vorstand um Schlömer jedenfalls soll nach den Reibereien der Vergangenheit erst mal Ruhe einziehen. Die neue politische Geschäftsführerin Katharina Nocun, die den mitunter exzentrisch agierenden Johannes Ponader ablöste, kennt den Parteichef gut. Ob allerdings Schlömers Motivationsaufruf „Piraten, auf in den den deutschen Bundestag!“ auch beim Wähler ankommt, ist nach den Geschäftsordnungs-Schlachten von Neumarkt weiter offen.