Berlin
Zweckoptimistische SPD, frustrierte Grüne

Sozialdemokraten setzen auf große Koalition, beim Wunschpartner Grüne gerät Trittin in Bedrängnis

22.09.2013 | Stand 02.12.2020, 23:38 Uhr

Berlin (DK) „Es war ein fantastischer Wahlkampf“, ruft ein sichtlich bewegter Peer Steinbrück. Der Traum vom Kanzleramt ist ausgeträumt, doch sie feiern ihn dennoch hier in der Berliner Parteizentrale. Er nimmt den Applaus auf, klatscht selber und schaut dabei nach ganz oben auf die Empore, dort wo er im Trubel Frau Gertrud und die Kinder vermutet.

Die Sozialdemokraten besiegt, der Wunschpartner Grüne deutlich gestutzt, die Union nach den aktuellen Umfragen knapp an der absoluten Mehrheit. Oder gelingt doch noch der Sprung in eine große Koalition? Immerhin ein Wahlziel könne die SPD vielleicht doch noch erreichen, sagt Steinbrück: „Dass die schwarz-gelbe Regierung vom Platz gefegt werden kann.“ Und noch einmal Jubel.

Auseinanderdividieren lassen möchte sich die SPD-Führungsriege nicht: Steinbrück und Parteichef Sigmar Gabriel werden bei ihrem Auftritt auf dem Podium vor der rot-lila farbenen Wand eingerahmt von der ganzen Parteiprominenz, von Parteivize Hannelore Kraft bis zu Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier. „Du bist ein Pfundskerl“, ruft Gabriel Peer Steinbrück zu. Trotz Pleiten, Pech und Pannen, dem unerreichten Wahlziel – am Wahlabend heißt es Solidarität üben. „Das ist Deine Partei und Du bist unser Kandidat.“

In der Berliner Runde im Fernsehen später schlägt sich Steinbrück tapfer: „Für Asche über unser Haupt ist auch nicht Platz“, gibt er den Moderatoren Contra. Auch wenn der Abstand zwischen SPD und Union noch einmal größer geworden ist – nach den aktuellen Hochrechnungen waren es 17 Prozent – präsentiert sich der Kanzlerkandidat erhobenen Hauptes. Zumindest hat er mehr Prozente erreicht als Frank-Walter Steinmeier 2009 mit 23 Prozentpunkten. Gabriel hatte die Losung ausgegeben: Der Wiederaufstieg der Partei nach dem Debakel dauere eben „deutlich länger als wir gedacht haben“.

Und so hatte der Abend begonnen: Jubel bei den Sozialdemokraten, „Ja!“, „Ja!“, die Rufe und dann Applaus im Foyer des Willy-Brandt-Hauses – doch sie gelten nicht dem eigenen Ergebnis, sondern dem Absturz der FDP. Als die Prognose um 18 Uhr über die Bildschirme flimmert, ist der rot-grüne Traum zerplatzt: Nur 26 Prozent für Steinbrück & Co., gar nur acht Prozent für die Grünen. Doch die 4,7 Prozent, die den Liberalen vorhergesagt werden, daran richten sich die Genossen auf. Gelingt doch noch der Einzug in die große Koalition, trotz des wohl zweitschlechtesten Ergebnisses der Partei?

SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles geht um 18 Uhr vor die Kameras, roter Cord-Samtanzug, angestrengtes Gesicht: „Jetzt ist Frau Merkel am Zug“, weicht sie Fragen aus. Und über Koalitionen werde „nicht heute Abend entschieden“. Ist das doch ein Hintertürchen für rot-rot-grüne Optionen? Zumindest Steinbrück lehnt in der Berliner Runde diese Option klar ab: „Nein, die Linkspartei ist für uns nicht koalitionsfähig“ – derzeit zumindest. Auf der anderen Seite steht die Parteiklinke in der SPD bereits bereit, um die Preise für den Fall einer großen Koalition hochzutreiben: gesetzlicher Mindestlohn, erhöhter Spitzensteuersatz – über Bedingungen wurde schon vor dem Wahlabend gefeilscht. Die Sozialdemokraten hatten sich seit Wochen darauf eingerichtet, bestenfalls als Juniorpartner in eine große Koalition einziehen zu können – kein beliebtes Szenario, doch getreu der Devise von Ex-Parteichef Franz Müntefering – „Opposition ist Mist“ – immer noch das geringere Übel im Vergleich zu drohenden weiteren vier Jahren auf den Oppositionsbänken.

Während Steinbrück und die SPD im Schlussspurt Rückenwind verspürten, waren die Grünen von ihren Umfrage-Bestwerten weit entfernt und in den Sinkflug übergegangen. Gestern Abend in der Columbia-Halle traf sich eine verunsicherte Partei: Die Vorwürfe, für Pädophilieforderungen in Grünen-Programmen direkt mitverantwortlich zu sein, hatte ausgerechnet Spitzenkandidat Jürgen Trittin auf den letzten Metern des Wahlkampfrennens erreicht. Die Stimmung ist angespannt, der Frust groß, als die Prognose erscheint. Trittin will kämpfen: „Man kann mal ein Spiel verlieren, dann steht man auf und kämpft weiter“, sagt er den Anhängern – nach Rückzug klingt das nicht. Doch das Steuerkonzept, das Trittin maßgeblich zu verantworten hatte, die Pädophilievorwürfe – der 59-Jährige steht ab sofort im Visier der jüngeren Generation.