Vor
Russland gedenkt seiner historischen Wende

06.11.2017 | Stand 02.12.2020, 17:15 Uhr

Vor 100 Jahren schrieb die Oktoberrevolution Weltgeschichte. Die Truppen Lenins stürmten den Winterpalast in Sankt Petersburg und übernahmen die Macht. Noch heute tut sich das Riesenreich schwer damit, die Vergangenheit aufzuarbeiten.

Die umjubelte Revolution siegt erneut im Winterpalast von Sankt Petersburg. Eine elegante weiße Marmortreppe, über die einst die russischen Zaren schritten, wird überragt von einem riesigen Arbeiter. Drohend schwingt er den Hammer. Rote Banner überstrahlen die französischen Wandteppiche in dem Palast, der heute das weltbekannte Museum Eremitage beherbergt.

Heute vor 100 Jahren vollzog sich in diesen langen Korridoren Geschichte. Am 25. Oktober 1917, dem 7. November nach neuem Kalender, besetzten kommunistische Soldaten und Matrosen Brücken und andere wichtige Punkte in der damaligen russischen Hauptstadt, die in jenen Tagen noch Petrograd hieß. Eine Nacht später drangen sie in den Winterpalast ein. Dort saß bereits seit der Februarrevolution acht Monate vorher nicht mehr Zar Nikolaus II., sondern nur noch eine schwache Übergangsregierung. In einem Handstreich - später verklärt zur "Großen Sozialistischen Oktoberrevolution" - übernahm der radikalste Flügel der russischen Linken die Macht: die Partei der Bolschewiki unter ihrem berüchtigten Anführer Wladimir Lenin.

Es war eine welthistorische Wende. Der erste sozialistische Staat entstand, aus Russland wurde 1922 die Sowjetunion, es begann ein Jahrzehnte dauernder Wettbewerb der politischen Systeme. Doch die Sowjetunion zerfiel im Jahr 1991, und im heutigen Russland ist die Ausstellung "1917" der Eremitage die wohl eindrücklichste Erinnerung an den Roten Oktober. Ansonsten tut sich das Land überaus schwer mit diesem Jubiläum. Einerseits kostete die Herrschaft der Kommunisten Millionen Menschen das Leben, vor allem unter Diktator Josef Stalin. Andererseits trauern immer noch viele Russen bis hinauf zu Präsident Wladimir Putin der verlorenen Größe der Sowjetunion nach.

Die Stätten der Oktoberrevolution lassen sich in Sankt Petersburg zu Fuß erlaufen. Vor dem Smolny-Institut, heute Sitz der Stadtregierung, steht immer noch ein Lenin-Denkmal. Gebieterisch weist der Revolutionsführer in die Ferne: in eine lichte Zukunft für die Menschheit? Oder nur bis zum vier Kilometer entfernten Winterpalast, wo einst seine Macht ungeahnte Größe erfuhr?

Im Smolny hatten der Petrograder Rat der Arbeiter und Soldaten sowie das Militär-revolutionäre Komitee ihren Sitz, von hier steuerte Wladimir Lenin seine Machtübernahme. Im russischen Doppelrevolutionsjahr 1917 agierte er von allen Politikern am entschlossensten. Im Februar war der Zar gestürzt worden, doch die folgende provisorische Regierung war zerstritten. Vor allem beendete sie den unpopulären Krieg gegen das Deutsche Kaiserreich nicht. Lenin versprach den Arbeitern Brot, den Bauern Land und allen zusammen Frieden.

Historiker sind sich heute einig, dass weniger der Umsturz von 1917, sondern die Festigung der Macht im blutigen Bürgerkrieg bis 1922 die eigentliche Leistung der Bolschewiki war. An dem militärischen Erfolg hatte Kriegskommissar Leo Trotzki (1879-1940) großen Anteil. Als Motto für das Gedenkjahr 2017 hat der Kreml dann auch die nationale Einheit ausgegeben, also die Versöhnung zwischen den einstigen Bürgerkriegsgegnern und Lagern, zwischen Roten und Weißen.

Für Präsident Wladimir Putin ist Lenin einer der großen Zerstörer in der russischen Geschichte. "Lenin hat eine Atombombe unter das Gebäude gelegt, das Russland heißt, und die ist dann explodiert", sagte er 2016. Gemeint war die Aufteilung der Sowjetunion in Republiken wie die Ukraine oder Weißrussland, die beim Zerfall des Riesenreichs eigenständige Staaten wurden. Vor dem Jubiläum kam der Kremlchef erneut auf den Umsturz zurück: "Hätte man sich nicht ohne Revolution, sondern auf evolutionärem Weg weiterentwickeln können", fragte der Präsident fast schon klagend.

Putin tue sich leichter mit Stalin, dem Sieger im Zweiten Weltkrieg, der die sowjetische Macht erweitert habe, meint der Historiker Ilja Kalinin. Außerdem sei dem Kremlchef jede Art von Umsturz, von Revolution verdächtig, sagte der Professor von der Universität Sankt Petersburg. "Schon die Idee einer Revolution wird als Nationalverrat gebrandmarkt." Der Langzeitpräsident fürchte, dass sich der Volkszorn irgendwann auch gegen seine Herrschaft richten könnte, sagt Kalinin. Das zeige schon das Vorgehen gegen die Opposition in Russland, der Kampf gegen bunte Revolutionen in der Ukraine und in anderen Ländern. Dabei sei die Botschaft der russischen Doppelrevolution, dass Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen könnten.

Zu den revolutionären Stätten in Russlands ehemaliger Hauptstadt gehört unabänderlich auch die "Aurora". Der alte Panzerkreuzer liegt als Museumsschiff am nördlichen Ufer des Flusses Newa. Zwei Matrosen aus der nahe gelegenen Kadettenakademie schieben an einem trüben Herbsttag Wache auf Deck. Ein Schuss aus einer der Kanonen der "Aurora" gab am Abend des 25. Oktober das vereinbarte Signal für die Besetzung des Winterpalasts. Die Revolutionäre drangen in den Prunkbau ein. Im sogenannten Kleinen Speisesaal nahmen sie die Minister der provisorischen Regierung fest. Einer entkam: der Regierungschef. Alexander Kerenski war vorher geflohen.

Die Uhr auf dem Kaminsims des Speisesaals soll der Legende nach bei der Festnahme stehen geblieben sein. Ein Jahrhundert lang standen die Zeiger auf 2.10 Uhr, bis Eremitage-Direktor Michail Piotrowski zum Jubiläum eine beinahe revolutionäre Tat beging: Er setzte das Uhrwerk wieder in Gang. ‹Œdpa