Brüssel
Regeln ohne Grenzen

Die Gesetzgebung der Europäischen Union wird immer wichtiger – deshalb mischen sich auch Lobbyisten kräftig ein

07.03.2013 | Stand 03.12.2020, 0:25 Uhr

Brüssel (DK) Ralf Diemer könnte auch Geschäftsführer eines mittelgroßen Autohauses sein – zumindest dem Büro nach. Grauer Teppichboden, zweckmäßige Möbel, an der Wand der Kalender einer Tuningmarke. Durch die Jalousie fällt trübes Großstadtlicht. Wahrscheinlich gibt es in der Gegend etliche Büros wie dieses. Der dunkelhaarige Mann im blauen Hemd ist aber kein mittelständischer Geschäftsführer. Er ist in Brüssel Statthalter eines der mächtigsten deutschen Wirtschaftsverbände.

Diemer leitet das Büro des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) in der Stadt der europäischen Institutionen. Er trifft sich mit Europa-Abgeordneten und EU-Beamten. Zu Arbeitssitzungen, zum Essen, zum Kaffee. Er versorgt die Entscheidungsträger mit Informationen, beantwortet Fragen zu Autotypen und Benzinverbrauch. Aber es geht auch ums Geschäft. Diemer soll auch helfen, der Industrie ihre Gewinne zu sichern. Neue Gesetze sollten Herstellern und Zulieferern zwar anspruchsvolle Vorgaben machen, sagt er. Sie dürften aber die Wettbewerbsfähigkeit nicht gefährden.

Beide Seiten brauchen einander. Das macht das System manchmal kompliziert.

Lobbyisten wie Diemer gibt es überall, wo politische Entscheidungen getroffen werden – auch in Berlin und in München. Brüssel ist in den vergangenen Jahren aber immer wichtiger geworden. Fast die Hälfte aller Gesetze in Bund und Land hat heute bei den Institutionen der Europäischen Union ihren Ursprung. Wer seine Interessen nicht einbringt, kann viel Geld verlieren.

Wie viele Lobbyisten in Brüssel arbeiten, weiß niemand genau. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Schätzungen gehen von mindestens 15 000 aus. Damit kämen auf jeden EU-Abgeordneten 20 Lobbyisten. Andere Beobachter halten eher die doppelte Anzahl für realistisch.

Dass der VDA nicht allein in dem vierstöckigen Gebäude an der Rue de Commerce ansässig ist, verrät das Klingelschild: Der Deutsche Bankenverband und der Verband der Bauindustrie sitzen oben. Im dritten Stock der VDA, die Messe Frankfurt, die Technikgesellschaft Acatech. Weiter unten die Entsorgungswirtschaft, der Industrieverband Haus-, Heiz- und Küchentechnik.

Interessenvertretung gehört zur Demokratie. Auch Umweltverbände, Verbraucherorganisationen, Städte und Regionen versuchen, neue Gesetze zu beeinflussen. Aber es ist eine Gratwanderung. Beamte und Abgeordnete müssen jeden hören, Interessen ausbalancieren. Nicht immer gelingt das reibungslos. Im vergangenen Jahr wurde das wieder deutlich.

Es ging um Lärmbegrenzung im Straßenverkehr. Eine komplizierte Materie. Nur wenige Experten kennen sich damit wirklich aus. Der tschechische EU-Abgeordnete Miroslav Ouzky war Berichterstatter für den Entwurf der EU-Kommission. Berichterstatter machen aus Entwürfen Beschlussvorlagen für das Parlament. In Ouzkys Bericht tauchte ein Powerpoint-Dokument mit Grenzwerten auf. Irgendwo fand sich auf einmal der Name eines Ingenieurs der Firma Porsche. Empörung machte sich breit. Hatte der Tscheche – selbst Porschefahrer – beim Konzern abgeschrieben? Dessen Vorschläge einfach übernommen?

Ouzky verteidigte sich. Alles sei ganz anders gewesen. Er habe die Tabelle zwar mit dem Akustikspezialisten, der für Porsche arbeitet, ausgehandelt. Das Ganze sei aber ein Kompromiss gewesen. Er habe nur versäumt, eine neutrale Folie zu verwenden. Die Abstimmung wurde verschoben, die Vorwürfe überprüft. Nach langem Hin und Her stimmte das Parlament doch noch ab – und nahm Ouzkys Vorlage weitgehend an.

„Unglücklich“ nennt Ralf Diemer den Vorfall. Aber dass Experten ihr Wissen einbringen sei unerlässlich. „Wir brauchen Gesetze, die praktikabel sind und auch den Autofahrer mit im Blick haben. Dazu braucht die Politik diese Fachleute.“

So sehen es auch Europa-Abgeordnete und Mitarbeiter der EU-Kommission. Wenn es kompliziert wird, sind sie auf die Expertise von Unternehmen und Verbänden angewiesen. „Wir wollen ja nicht von einem Thema reden wie der Blinde von den Farben“, sagt ein leitender EU-Beamter. Richtlinien und Verordnungen sollen möglichst lebensnah sein. Bürger und Unternehmen müssen sie umsetzen können.

Es gibt aber Schwachstellen im System – deutlich wird das zum Beispiel bei der Regulierung der Finanzmärkte. Die EU-Kommission lässt sich etwa von Expertengruppen beraten. Anders wäre der komplexe Markt aus Banken, Versicherungen und Investmentfonds nicht zu durchschauen. Allerdings gibt es kaum Experten, die nicht aus einem großen Unternehmen kommen. Vertreter unabhängiger Organisationen brächten oft kein ebenbürtiges Fachwissen ein, heißt es in der EU-Behörde. Und so arbeitet die Finanzwirtschaft eifrig an den Regeln mit, die sie später in die Schranken weisen sollen.

Nicht jedem behagt das derzeitige System des Lobbyismus in Brüssel. Aktivisten kämpfen für mehr Regeln und größere Transparenz. Zum Beispiel Pia Eberhardt von der lobbykritischen Organisation Corporate Europe Observatory (CEO).

Die zierliche Politologin hat die Alpakamütze tief ins Gesicht gezogen. In der Kälte auf dem Brüsseler Square de Meeus, einem Platz nahe EU-Kommission und Abgeordnetengebäude, hat sich eine Gruppe Leipziger Studenten versammelt. Pia Eberhardt gibt eine „lobbykritische Stadtführung“, wie sie ihren Rundgang nennt. Sie reicht den „Lobby Planet“ herum – ein blaues Heftchen, in dem die CEO ihre Sicht der Dinge beschreibt. Es geht um Merkwürdigkeiten, um Skandale. Dazu hat die Organisation eine Art „Who is Who“ des EU-Lobbysystems zusammengestellt. Vom US-Konzern Facebook über den Chemieriesen BASF bis zur EU-Bankenvereinigung.

Eberhardt zeigt auf mehrstöckige Fassaden. Zwei amerikanische PR-Giganten residieren in den Gebäuden: Burson-Marsteller, Fleishman-Hillard – Unternehmen, die hunderte Millionen Euro im Jahr umsetzen. Unter anderem mit Lobbyarbeit für Konzerne. 70 Prozent der Lobbyisten in Brüssel vertreten Kapitalinteressen, sagt Pia Eberhardt. 20 Prozent seien für Städte und Regionen unterwegs. Nur jeder Zehnte setze sich für übergeordnete Interessen wie Umweltschutz und Menschenrechte ein. Das sei ihre Hauptkritik, sagt die Antilobby-Lobbyistin – „dieses Ungleichgewicht“.

Die EU versucht, wenigstens mehr Offenheit ins System zu bringen. Seit einigen Jahren gibt es ein Transparenzregister. Lobbyisten sollen sich eintragen und zum Beispiel ihr Budget offenlegen. Auch Ralf Diemer hat sich dort registriert. Bisher ist das aber, anders als etwa in den USA, nicht verpflichtend. Konkrete weitere Schritte gibt es in Europa bisher nicht.

Manchem Politiker schwant aber schon, dass mangelnde Offenheit der EU schadet – gerade in Zeiten, in denen das Vertrauen sowieso schwindet. „Ich bin für absolute Transparenz“, sagt etwa die Vizepräsidentin der EU-Kommission, Viviane Reding. „Heimlich, still und leise halte ich in der Politik für den falschen Weg.“

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