Berlin
"Ja, ich nehme die Wahl an"

CDU-Chefin Angela Merkel bleibt Kanzlerin der Bundesrepublik Steinmeier mahnt zum Neuanfang

14.03.2018 | Stand 02.12.2020, 16:41 Uhr

Berlin (DK) Es herrscht Stille. Nur ein, zwei Sekunden lang, aber es wirkt wie eine beklemmende Ewigkeit. Dort, wo sonst Jubel laut wird und Abgeordnete von ihren Sesseln aufspringen, ist es ruhig, während Wolfgang Schäuble gestern das Ergebnis bekanntgibt. 364 Stimmen für Angela Merkel, nur 9 mehr als nötig, um Kanzlerin zu bleiben. Mehr als 30 Parlamentarier aus den Reihen der großen Koalition haben der CDU-Chefin also ihre Stimme verweigert. Dann geht ein Raunen durch den Plenarsaal, und schließlich gibt es doch Applaus. Ein Schockmoment, dann haben sich Merkel und ihre Fraktion wieder gefangen. Die Kanzlerin wirkt erleichtert. "Ja, Herr Präsident, ich nehme die Wahl an", antwortet sie dem Bundestagspräsidenten. Und Wolfgang Schäuble wünscht ihr "Gottes Segen bei der Bewältigung Ihrer großen Aufgabe".

Der Dämpfer ist für sie nur ein kleiner Schönheitsfehler, mehr aber nicht. Um 9.53 Uhr ist Merkel erneut zur Kanzlerin gewählt. Doch ein guter Start sieht anders aus. Von Aufbruch und Dynamik, wie sie die große Koalition verspricht, ist an diesem Morgen unter der Reichstagskuppel nicht viel zu spüren. Merkels Blick geht nach oben auf die Besuchertribüne, dort wo nicht nur ihre 89-jährige Mutter Herlind Kasner die Wahl verfolgt. Zum ersten Mal ist auch Gatte Joachim Sauer mit seinem Sohn Daniel dabei. Eine Premiere - die ersten drei Kanzlerinnen-Wahlen hatte er lieber am Fernseher verfolgt. Und auch die engsten Vertrauten der Kanzlerin wie Brigitte Baumann, Medienberaterin Eva Christiansen und Regierungssprecher Steffen Seibert haben dort oben Platz genommen.

25 Minuten lang werden die Namen der Abgeordneten einzeln aufgerufen, die ihre Stimme geheim in Wahlkabinen am Rande des Plenums abgeben, von A wie Abercron bis Z wie Zimmermann. Merkels Gatte nutzt die Gelegenheit, klappt auf der Ehrentribüne sein Laptop auf und vertreibt sich die Wartezeit. Zwanzig Minuten lang wird ausgezählt, dann ist klar: Die alte Kanzlerin ist auch die neue. Schließlich Glückwünsche, Blumen und Umarmungen. Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) gratuliert zuerst. Auch der gescheiterte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz lässt es sich nicht nehmen und reiht sich in das Defilee der Gratulanten ein.

Die knappe Mehrheit bei der Wahl und die vielen Gegenstimmen, ein Makel gleich zu Beginn der vierten Amtszeit? Merkels Vertraute winken ab. Gegenstimmen habe es immer gegeben. Und angesichts der schwierigen Regierungsbildung und der Widerstände in der SPD wäre man auch nicht überrascht gewesen, wenn es erst im zweiten Wahlgang eine Mehrheit gegeben hätte, heißt es aus dem Umfeld der Kanzlerin. Doch ist es alles andere als ein Traumstart. Es läuft zu Beginn nicht rund bei Schwarz-Rot. "Das war knapp und ist ein schlechtes Omen", sagen Merkel-Kritiker wie der konservative Alexander Mitsch (CDU) und prophezeien der Groko ein vorzeitiges Ende.

Wer aus den schwarz-roten Reihen hat gegen Merkel votiert? SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles gibt sich überrascht angesichts der recht knappen Mehrheit. "Es waren mehr Gegenstimmen als ich erwartet hätte", sagt sie. Doch sei die SPD "sehr geschlossen" gewesen. Sie könne sich nur wundern, vermutet Nahles auch Abweichler bei der Union. Mehrheit sei Mehrheit, entscheidend ist, dass Merkel wieder Kanzlerin sei, winkt Unionsfraktionschef Volker Kauder ab - dabei war noch am Vortag mit einer "überzeugenden Mehrheit" gerechnet worden.

Zurück von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und von ihrer offiziellen Ernennung im Schloss Bellevue nimmt Merkel im Bundestag wieder auf der Regierungsbank Platz. Um 12.02 Uhr ist es geschafft. Die Kanzlerin spricht die letzten Worte ihres Amtseides: "So wahr mir Gott helfe." Bundestagspräsident Schäuble gratuliert noch einmal, die Abgeordneten erheben sich und applaudieren. Diesmal gibt es auch Beifall von den Sozialdemokraten und der Opposition. Nur bei der AfD rührt sich keine Hand. Start frei in die nächste Amtszeit: Merkel, die Vierte.

Merkel und ihr neues Kabinett pendeln gestern zwischen Parlament und Präsidialamt. Es ist eine Art politischer Wanderzirkus, der sich nach den streng festgelegten Regeln des Grundgesetzes und des Protokolls im Stundentakt zwischen Bundestag und dem wenige Hundert Meter entfernten Sitz des Bundespräsidenten hin und her bewegt. "Willkommen Bundesregierung. Das wurde aber auch Zeit", begrüßt Steinmeier Merkel und ihr neues Kabinett im Schloss Bellevue.

Fast ein halbes Jahr, 171 Tage nach der Bundestagswahl, zeigt sich auch das Staatsoberhaupt erleichtert, warnt aber auch: "Ein schlichter Neuaufguss des Alten" werde nicht reichen, um verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Die Bundesregierung müsse sich neu und anders bewähren, fordert Steinmeier. Die neue Regierung sei gut beraten im Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern, "genau hinzuhören und hinzuschauen". Über Themen wie Flüchtlingspolitik und Migration, Integration und Heimat müssten "offene und ehrliche Debatten" geführt werden.