Lohn der Angst

Kommentar

16.09.2016 | Stand 02.12.2020, 19:18 Uhr

"Clean Diesel - wirklich saubere Diesel" versprach Volkswagen seinen Kunden, bekommen haben sie das Gegenteil. Vor einem Jahr flog in den USA der wohl größte Betrugsfall der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte auf. Dieselgate erschütterte nicht nur den VW-Konzern in seinen Grundfesten, sondern die ganze Automobilbranche, und zieht seither folgenschwere Kreise in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Es ist so vieles in Bewegung geraten, was bislang als fest gefügt galt, dass die Auswirkungen des Skandals um elf Millionen manipulierte Motoren in ihrem ganzen Ausmaß wohl erst in etlichen Jahren erkennbar werden. Es ist aber nicht allzu gewagt, bereits heute zu behaupten: Die Abgas-Affäre von Volkswagen hat historische Dimensionen.

Dies vor allem deshalb, weil - wie inzwischen erkennbar ist - in der Motorenentwicklung des größten deutschen Industriekonzerns ein Jahrzehnt lang zumindest in Teilen systematisch Schummel-Software zur Manipulation von Abgas-Werten entwickelt und eingesetzt wurde. Auch die Flut an Klagen von VW-Kunden, Kapitalanlegern, Autohändlern und Behörden gegen den Wolfsburger Konzern findet kaum ihresgleichen in der Historie. Das gilt ebenso für die in dem Zusammenhang genannten Milliardensummen für Strafen und Entschädigungen.

Das ist besonders fatal zu einer Zeit, in der die Branche vor Herausforderungen steht wie noch nie: etwa durch den Zwang, verstärkt alternative Antriebe zu entwickeln und auf die Straße zu bringen, durch die Digitalisierung, durch den Wandel der Mobilitätserfordernisse. Der VW-Skandal hat - dies ein positiver Nebeneffekt - den Druck auf die Hersteller zu tief greifenden und schnelleren Veränderungen immens gesteigert. Zumal Politik und Aufsichtsbehörden der Autolobby und den auf Jobsicherung erpichten Gewerkschaften kaum mehr mit aufgeweichten Emissionslimits und laxen Kontrollen zu Diensten sein können. Den Herrschaften in den Vorstandsetagen bläst ein schärferer Wind ins Gesicht.

Das ist gut so, wenn es denn - vor allem bei VW - auch zu einem radikalen Wandel der Firmenkultur und der Auffassung darüber kommt, wie Unternehmensführung angesichts der immensen Zukunftsaufgaben künftig auszusehen hat. Denn die Abgas-Affäre hat ihre Ursache vor allem darin, dass das VW-Imperium von Ferdinand Piëch und Martin Winterkorn wie eine Armee geführt wurde, streng hierarchisch mit entsprechender Befehlskette, die nur eine Rückmeldung nach oben kannte: Auftrag ausgeführt. Wer dagegen aufmuckte, hatte keine große Zukunft im Konzern, Stromlinie förderte hingegen die Karriere.

So kam es, wie es kommen musste: Weil vom Konzernvorstand ohne Rücksicht auf technische und finanzielle Machbarkeit Lösungen eingefordert wurden, gerieten einige Motorenentwickler aus Furcht vor Ärger auf kriminelle Abwege. Und die Mitwisser - dem Vernehmen nach nahezu alle, die mit den Antriebsaggregaten zu tun hatten - hielten aus dem gleichen Grund die Klappe. Damit blieb dann auch die Moral auf der Strecke.

Auf der anderen Seite machten die Arroganz der Macht, der Glaube an die vermeintliche technologische Überlegenheit sowie der unabweisbare Markterfolg an der Konzernspitze offensichtlich blind und taub für die Warnsignale aus den USA. Es ist daher nur konsequent, dass nicht nur Winterkorn, sondern auch andere Spitzenmanager den Hut nehmen mussten und noch werden nehmen müssen.

Christine Hohmann-Dennhardt, im VW-Vorstand zuständig für Integrität, hat nun mehr Offenheit und Mut zur Kritik im Konzern eingefordert - "und zwar Kritik nicht nur von oben nach unten, sondern auch von unten nach oben". Angesichts der über Jahrzehnte bei VW etablierten Strukturen bedarf es da schon einer geistigen Revolution.

Die gelingt allerdings nicht von heute auf morgen. Und sie verlangt einem jeden Mitarbeiter des Konzerns die mehr oder minder radikale Veränderung des eigenen Denkens und Verhaltens ab. Furcht vor Konsequenzen aus Fehlern oder Fehlentwicklungen darf jedenfalls nicht mehr den Alltag im Unternehmen bestimmen. Denn, so der Bauingenieur und Aphoristiker Erhard Horst Bellermann: "Kalter Schweiß ist unproduktiv."