Die Lehren des Amoklaufs

Kommentar

20.07.2017 | Stand 02.12.2020, 17:45 Uhr

Ein Jahr liegt der Amoklauf von München nun zurück. Bewaffnet mit einer Pistole und einem Rucksack voller Munition auf dem Rücken zog der Schüler David S. los und richtete ein Blutbad an. Neun Menschen starben durch die Kugeln des - laut Ermittlungsbericht psychisch gestörten - 18-Jährigen. Was bleibt, ist die Trauer der Angehörigen. Und eine erschreckende Erkenntnis: Wohl selten zuvor hat das Internet bei einer solchen Bluttat eine so große Rolle gespielt.

Die Waffe? Hatte der Täter aus dunklen Kanälen des Netzes. Die perfide Einladung an vermeintliche Opfer in den Tatort-McDonald's? Veröffentlichte David S. über ein gefälschtes Facebook-Profil. Das Chaos und die Panik in München? Sie resultierten zum großen Teil aus Falschmeldungen in den sozialen Medien.

Feststeht: Eine solche Tat, die der Schüler offenbar alleine geplant hat, ist kaum zu verhindern. Ein Jahr danach weiß man aber, dass es womöglich noch viel schlimmer hätte kommen können - aufgrund der Falschmeldungen. Von 73 Phantom-Tatorten berichtet die Münchner Polizei. Der eigentliche Amoklauf dauerte nur rund zehn Minuten. Doch noch Stunden später war die gesamte Stadt in Aufruhr. Vermutlich, sagt die Polizei, hätte man schneller erkennen können, dass es sich um einen Einzeltäter handelt - wenn das Ganze nicht im Internet eskaliert wäre.

Was, wenn David S., nachdem er neun Menschen getötet hatte, sich nicht über zwei Stunden versteckt und anschließend erschossen hätte? Was, wenn er an anderer Stelle weitergemacht hätte, aber die Polizei nicht schnell genug hätte helfen können - weil sie gerade Dutzende Phantom-Tatorte abarbeitete? Und was, wenn bei einer der Paniken - etwa im "Hofbräuhaus" - jemand zu Tode getrampelt worden wäre? All das ist nicht passiert - und dennoch muss man diese Fragen stellen, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. So etwas darf sich nicht wiederholen.

Natürlich ist nicht jeder, der an diesem Abend eine der vielen Twitter-Meldungen geteilt hat, ein Troll, ein Wichtigtuer oder ein Trittbrettfahrer. Viele der Multiplikatoren von Falschnachrichten hatten einfach nur Angst, gerade weil der Anschlag von Nizza nur wenige Tage zurücklag - das ist verständlich. Das Problem: Wie beim Kinderspiel "Flüsterpost" veränderte sich der Inhalt. Aus Wahrnehmungen und Gerüchten wurden plötzlich vermeintliche Tatsachen.

Selten hat sich so deutlich gezeigt, wie gefährlich es ist, unreflektiert Gerüchte weiterzuverbreiten. Warum auf Informationen durch Polizei und Medien warten? So mancher Twitter-Nutzer ist ja viel schneller. Nur: Richtiger sind die Nachrichten von jemandem, den man nicht kennt, deshalb noch lange nicht. Es ist nun mal sehr verlockend: Schnell ein paar Wörter ins Smartphone gehackt und auf Senden gedrückt - und schon ist man auch Teil des Ganzen.

Bleibt die Frage, wie man so ein gefährliches Chaos wie in München vermeiden kann. Zumindest langfristig gesehen ist die Antwort ziemlich einfach: Es braucht eine Art Internet-Führerschein. Weil Erwachsene häufig unbelehrbar sind, muss man bei den Kindern ansetzen. Noch bevor jeder ein Smartphone im Ranzen hat, müssen in der Schule die Risiken aufgezeigt werden. Die Regeln im Umgang mit dem Internet zu kennen ist beinahe so wichtig wie Verkehrsregeln zu lernen. Wer sie nicht beachtet, gefährdet sich selbst - oder wie im Fall des Münchner Amoklaufs viele andere.